Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Gewalttat gegen den Geliebten der Nichte durch deren Ehepartner. mittelbares Opfer. Schockschaden. Unmittelbarkeitszusammenhang. zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen. besondere persönliche Nähebeziehung

 

Orientierungssatz

1. Eine Einbeziehung als Sekundäropfer in den Schutzbereich des § 1 Abs 1 OEG setzt voraus, dass die psychischen Auswirkungen der Gewalttat bei wertender Betrachtung so eng mit der Tat verbunden sind, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt (vgl BSG vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3).

2. Unter einem Schockschaden werden nur Schäden verstanden, die unmittelbar durch den vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff verursacht worden sind. Daran fehlt es, wenn die Schädigung nicht auf dem schädigenden Vorgang als solchem beruht und es erst aufgrund von Ereignissen, die das Primäropfer nach Abschluss des schädigenden Vorgangs erfasst haben, zu der "initialen Schädigung" gekommen ist (vgl BSG vom 12.6.2003 - B 9 VG 8/01 R = SozR 4-3800 § 1 Nr 2).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.08.2020; Aktenzeichen B 9 V 5/20 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die 1970 geborene Klägerin ist die Tante von Frau D. (zuvor: E.). Letztere heiratete im April 2011 in der Türkei den türkischen Staatsbürger F. Dieser reiste im Oktober 2011 in die Bundesrepublik ein und zog zu der Nichte der Klägerin nach G. Schnell legte Herr E. ein gewalttätiges Verhalten gegenüber der Nichte der Klägerin an den Tag, weshalb die Polizei diese im Dezember 2011 zeitweilig in einem Frauenhaus unterbrachte. Im März 2012 trennte sich die Nichte der Klägerin von Herrn E. Zeitgleich unterhielt sie ein intimes Verhältnis mit Herrn H. Aus Verärgerung darüber lauerte Herr E. dem Herrn I. im Mai 2012 vor dem Haus der Familie der Nichte der Klägerin auf und schlug dabei mehrfach mit einer Gartenhacke auf den Kopf des Herrn I. ein. Dadurch erlitt dieser lebensbedrohliche Verletzungen. Die Nichte der Klägerin wurde Zeugin dieses Angriffs und griff in das Geschehen ein, indem sie versuchte, den Täter von dem Opfer wegzuzerren. Der Täter wurde mit Urteil des Landgerichts (LG) Braunschweig vom 24. Oktober 2012 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen und zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Ehe zwischen dem Täter und der Nichte der Klägerin wurde im September 2012 geschieden. Die Nichte der Klägerin lebt bis heute mit Herrn I. in einer Partnerschaft sowie in dem Haus ihrer Familie. Der Täter ist nach Verbüßung seiner Haftstrafe in die Türkei abgeschoben worden.

Der Vorfall führte zu zahlreichen sozialgerichtlichen Verfahren bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig bzw. dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen. Zu den einzelnen Verfahren wird auf den Tatbestand des Gerichtsbescheides des SG Braunschweig im hiesigen Verfahren verwiesen. Hinsichtlich des Opfers I. stellte die Beklagte mit Bescheid vom 26. November 2013 (in Gestalt des Bescheides vom 10. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2015) einen GdS von 80 fest. Das hiergegen gerichtete Klageverfahren blieb ohne Erfolg  (S 12 VE 5/15, Urteil vom 10. Juni 2016). Die hiergegen eingelegte Berufung wird beim hiesigen Gericht unter dem Az. L 10 VE 43/16 geführt.

Hinsichtlich  der  Nichte  der  Klägerin  stellte  die  Beklagte  mit  Bescheid  vom 28. August 2013 (in Gestalt des Änderungsbescheides vom 29. Juli 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2014) einen GdS von 30 (bzw. 40 für den Zeitraum Mai 2012 bis Juni 2013) fest. Als Schädigungsfolge stellte sie aufgrund eines Schockschadens „psychoreaktive Störungen“ fest. Das hiergegen gerichtete Klageverfahren blieb ohne Erfolg (Az. S 12 VE 32/14, Urteil vom 17. November 2016, SG Braunschweig).

Am 27. Februar 2015 beantragte auch die Klägerin bei der Beklagten Leistungen nach dem OEG. Zur Begründung verwies sie auf das oben genannte Ereignis, bei welchem Herr E. Herrn I. schwer verletzt hatte. Sie sei im Zuge der Rettungsmaßnahmen hinzugerufen worden. Durch die Bluttat und deren Auswirkungen im familiären Umfeld habe sie bleibende psychische Schäden erlitten. Ihr Gesundheitszustand sei immer schlimmer geworden. Zwischenzeitlich hätten di...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge