Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Schwerbehindertenrecht. Entziehung eines Merkzeichens. Aufhebung des "falschen" Bescheids. Auslegung nach Empfängerhorizont. keine Klarstellung des Gemeinten bei hinreichender Bestimmung des erlassenen Bescheids. unzulässiges Nachschieben von Gründen im sozialgerichtlichen Verfahren. keine Umdeutungsmöglichkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Will die Behörde ein Merkzeichen wegen einer eingetretenen Änderung in den Verhältnissen auf der Grundlage von § 48 SGB X entziehen, bedarf es der Aufhebung des Verwaltungsakts, mit dem dieses Merkzeichen zuerkannt worden ist.
2. Hebt die Behörde rechtsirrig einen anderen Verwaltungsakt auf (hier: einen in einem früheren Widerspruchsverfahren erteilten Abhilfebescheid), ist diese Regelung inhaltlich hinreichend bestimmt (so dass eine Klarstellung des Gewollten im Klageverfahren schon deshalb ausscheidet) und nicht der Auslegung dahingehend zugänglich, dass ein anderer Bescheid gemeint gewesen sein könnte.
3. Bei einer Korrektur der getroffenen Regelung durch die Behörde im Laufe des Klageverfahrens handelt es sich um ein unzulässiges Nachschieben von Gründen.
4. Eine Umdeutung scheidet nach § 43 Abs 2 S 1 SGB X aus.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit).
Mit Erstfeststellungsbescheid vom 6. Mai 1997 stellte der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) des 1996 geborenen Klägers mit 100 fest und erkannte ihm zugleich u. a. das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) zu.
In einem wegen der Entziehung des Merkzeichens H geführten Widerspruchsverfahren erging ein Abhilfebescheid des Beklagten vom 7. Januar 2014 nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Verbindung mit § 85 Sozialgerichtsgesetz (SGG), welcher folgenden Verfügungssatz enthielt:
„Der Widerspruch hat sich als begründet erwiesen.
Nunmehr gilt: Ab 01.05.2013 beträgt der Grad der Behinderung (GdB) 100.
Die Merkzeichen G, aG, B und H werden ab 01.05.2013 festgestellt.“
Mit Schreiben vom 27. Februar 2015 hörte der Beklagte den Kläger erneut zur Entziehung des Merkzeichens H an und teilte mit, dass beabsichtigt sei, „einen Aufhebungsbescheid nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu erteilen“. Mit Bescheid vom 4. Juni 2015 traf der Beklagte sodann folgende Entscheidung:
„Der Bescheid vom 7. Januar 2014 wird insoweit aufgehoben, als der Anspruch entsprechend der eingetretenen Änderung wie folgt neu festgestellt wird:
Das bisher festgestellte Merkzeichen H entfällt mit Wirkung vom 01.07.2015.“
Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das bisher festgestellte Merkzeichen H seien nicht mehr erfüllt; im Übrigen wies er auf die Anhörung nach § 24 SGB X hin.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 2015 zurückwies. Zur Begründung führte er u. a. aus, dass mit dem angefochtenen Bescheid entschieden worden sei, dass eine Hilflosigkeit nicht mehr festgestellt werden könne. Nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage sei dieser Bescheid nicht zu beanstanden.
Auf die am 17. Dezember 2015 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg den Bescheid des Beklagten vom 4. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2015 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, der Beklagte habe mit dem streitigen Bescheid vom 4. Juni 2015 lediglich den Verwaltungsakt vom 7. Januar 2014 aufgehoben. Richtigerweise hätte als Vergleichsbescheid der Ursprungsbescheid vom 6. Mai 1997 berichtigt werden müssen. Der Bescheid vom 7. Januar 2014 sei in der Sache lediglich ein Abhilfebescheid gewesen, mit dem dem Widerspruch vom 15. August 2013 in vollem Umfang stattgegeben worden sei und der im Ursprungsbescheid vom 6. Mai 1997 festgelegte Rechtszustand (Anerkennung von Hilflosigkeit des Klägers) wiederhergestellt worden sei. Ausweislich eines Aktenvermerks vom 7. Januar 2014 sei dem Widerspruch des Klägers ausschließlich aus formellen Aspekten entsprochen worden, ohne dass eine endgültige sachliche Prüfung des Merkzeichens H vorgenommen worden sei. Demzufolge hätte nunmehr als Vergleichszeitraum das Jahr 1997 zugrunde gelegt werden müssen und der Bescheid vom 6. Mai 1997 aktualisiert werden müssen. Es gelte insoweit das Gebot, dass die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes ausdrücklich und unmissverständlich erfolgen müsse, mit einer für den Empfänger eindeutigen Regelung, um der Klarstellungs- und Warnfunktion gegenüber dem Adressaten Genüge zu tun zum Zwecke der Verdeutlichung, dass in dessen Rechtsposition eingegriffen werde. Zwar sei anerkannt, dass bei einer unzutreffenden Bezeichnung des Ursprungsbescheides in einem Verwaltungsakt nach § 48 SGB X durch Auslegung der wahre Wille der ...