Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. erkennbar aussichtslose Ausgangsklage. keine Widerlegung der Vermutung eines immateriellen Nachteils. Wiedergutmachung auf andere Weise. keine Geldentschädigung. Feststellungsausspruch. volle Kostenauferlegung trotz teilweisen Obsiegens. zweckwidrige Inanspruchnahme der Sozialgerichte durch Ausgangsklage

 

Orientierungssatz

1. Es kann der Billigkeit entsprechen, die gesamten Kosten für ein Entschädigungsklageverfahren wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens dem Entschädigungskläger aufzuerlegen, wenn die im Ausgangsverfahren erhobene Klage zu denjenigen gehört, welche geeignet sind, die Sozialgerichte von der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe abzuhalten, und deshalb im (teilweise erfolgreichen) Entschädigungsverfahren lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festgestellt wird.

2. Liegt eine sachlich nicht gerechtfertigte Verfahrensverzögerung vor, ist der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit grundsätzlich auch bei substanzlosen Klagen verletzt.

3. Dem Umstand, dass das Rechtsschutzbegehren des Betroffenen von Anfang an unbegründet war, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass eine Geldentschädigung versagt und ggf gemäß § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 S 1 GVG lediglich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer festgestellt wird (vgl LSG Celle-Bremen 15.8.2019 - L 13/15 SF 26/18 EK AL; BGH vom 13.4.2017 - III ZR 277/16 = NJW 2017, 2478).

4. Eine besondere Bedeutung eines sozialgerichtlichen Ausgangsverfahrens für den Entschädigungskläger ist zu verneinen, wenn dieses zwar auf existenzsichernde Leistungen gerichtet gewesen ist, gleichwohl aber nicht festgestellt werden kann, ob überhaupt jemals eine Unterdeckung des Existenzminimums eingetreten ist (hier wegen Geldschenkungen einer Freundin).

5. In der reinen Beantwortung von Sachstandsanfragen ist keine aktive Verfahrensgestaltung zu erkennen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 02.02.2021; Aktenzeichen B 10 ÜG 5/20 B)

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Dauer des vor dem Sozialgericht Oldenburg geführten Verfahrens mit dem Aktenzeichen S 35 BK 29/15 unangemessen war.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.800 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer eines vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg zum Aktenzeichen S 35 BK 29/15 geführten Klageverfahrens.

In jenem Verfahren erhob die Klägerin am 10. Juni 2015 Klage gegen einen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Niedersachsen-Bremen, mit dem die Gewährung von Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) abgelehnt worden war. Mit der Klage machte die Klägerin die Gewährung von Kinderzuschlag (gesetzlicher Höchstbetrag: 140 € monatlich) für die Monate März bis Mai 2015 geltend und führte hierzu in ihrer im Juli 2015 bei dem SG eingegangenen Klagebegründung aus, es sei widersprüchlich, dass nach Auffassung der Familienkasse die Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe berücksichtigt werden müssten, während das Jobcenter insoweit Höchstgrenzen zugrunde lege. Eine langjährige Freundin habe ihr ausgeholfen und ihr einen Betrag in Höhe von 120 € monatlich ab März 2015 "für den übersteigenden Betrag der Miete/Heizkosten" zur Verfügung gestellt. Dieses Geld fordere die Freundin nicht zurück. Ferner habe sie ihr ab März 2015 monatlich Geld für den Lebensunterhalt geliehen. Diese Beträge müssten zurückgezahlt werden. Ebenfalls im Juli 2015 ging die Klageerwiderung der Familienkasse ein, an die sich bis März 2016 weiterer Schriftverkehr der Beteiligten anschloss. In diesem Rahmen legte die Klägerin eine Bescheinigung der Frau L. M. vom 14. September 2015 vor, in der diese im Nachtrag zu einer bereits ausgestellten Bescheinigung vom 9. Juli 2015 nochmals bestätigte, dass sie der Klägerin „u. a. einen Betrag in Höhe von 360 Euro als nicht rückzahlbare zweckgebundene Zuwendung zur Sicherung der zu teuren Wohnung aufgrund der Arbeitslosigkeit ihres Ehemannes am 28.02.2015 in bar zunächst für die nächsten drei Monate von März bis Mai 2015" zur Verfügung gestellt habe. Nachdem die Familienkasse darauf hingewiesen hatte, dass eine im Februar 2015 zugeflossene Zahlung der Freundin in Höhe von 360 € in den streitbefangenen Monaten März bis Juni 2015 nicht berücksichtigt werden könnte, trug die Klägerin mit Schriftsatz vom 30. Dezember 2015 vor, dass die Freundin von März bis Mai 2015 auch Zahlungen für den Lebensunterhalt geleistet habe. Sie habe ihr - der Klägerin - nunmehr mitgeteilt, dass der Restbetrag in Höhe von 200 € rückwirkend in eine Schenkung umgewandelt worden sei. Aufgrund des Zuflussprinzips seien daher für die Monate März und April 2015 jeweils 70 € und für den Monat Mai 2015 60 € anzurechnen mit der Folge, dass durch die Bewilligung des Kinderzuschlags Hilfebedürftigkeit nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vermieden würde. Die Klägerin legte ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge