Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflicht zur Ermessensausübung bei der rückwirkenden Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschrift des § 45 Abs. 1 SGB 10 verlangt bei der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit die Ausübung von Ermessen durch die ausübende Behörde, vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 - 8 RKn 11/93.

2. Ob die Behörde von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, muss aus der Begründung des Aufhebungsbescheides hervorgehen. Diese muss erkennen lassen, dass die Behörde eine Ermessensentscheidung treffen wollte und getroffen hat; ebenso diejenigen Gesichtspunkte, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist, vgl. BSG, Urteil vom 14. November 1985 - 7 RAr 123/84.

3. Enthält der Aufhebungsbescheid keinerlei entsprechende Darlegungen, ist er rechtswidrig ergangen. Eine bloße Formulierung "bei der Ermessensabwägung kann aus diesem Grund das gegen die Rücknahme sprechende Vertrauen nicht berücksichtigt werden" genügt als Leerformel den gesetzlichen Anforderungen nicht.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.12.2011 geändert. Dem Kläger wird für die Zeit ab 20.06.2011 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin X, E, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Mit Bescheid vom 20.01.2011 und Widerspruchsbescheid vom 06.04.2011 forderte die Beklagte vom Kläger überzahltes Krankengeld für die Zeit vom 01.02.2010 bis 08.12.2010 in Höhe von 29.106 EUR zurück. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 09.05.2011 erhobene Klage, am 20.06.2011 hat der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Mit Beschluss vom 12.12.2011 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, der Kläger könne sich nicht auf Vertrauen berufen, weil er die Fehlerhaftigkeit der Höhe des ihm ausgezahlten Krankengeldes zumindest in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Der Kläger habe aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher erkennen können, dass ihm ein Anspruch auf Krankengeld in Höhe des mehr als 2,5-fachen des von ihm vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erzielten Nettoarbeitsentgeltes nicht zustehe.

Gegen diese dem Kläger am 19.12.2011 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 26.01.2012 erhobene Beschwerde.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Für die Bejahung der hinreichenden Erfolgsaussicht genügt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags eine nicht ganz entfernt liegende Möglichkeit des Obsiegens besteht (BVerfG vom 13.03.1990 - 2 BvR 94/88, BVerfG 81, 347; BVerfG vom 19.02.2008 - 1 BvR 1807/07, NJW 2008 S. 1060; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008 § 73 a Rn. 7 und 7 a; st. Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschluss vom 08.11.2010 - L 1 B 1/09 BK).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze bietet die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg:

Einzig in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage für die Entscheidung der Beklagten ist § 45 SGB X. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 - 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X wird nur in den Fällen von Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Zwar dürfte die Beklagte insoweit zu Recht die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X angenommen haben, wonach der Begünstigte sich auf Vertrauen nicht berufen kann, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Höhe des überzahlten Krankengeldes für die Annahme grober Fahrlässigkeit spricht.

Jedoch fehlt es an der gem. § 45 Abs. 1 SGB X gebotenen Ermessensausübung. Diese ist nicht etwa entbehrlich, weil der Kläger sich gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht auf Vertrauen berufen kann. Zwar wird in der Rechtsprechung des BSG teilweise vertreten, dass der Sozialleistungsträger das zu Unrecht Erlangte vom bösgläubigen Versicherten (ohne Ermessensausübung) zurückfordern müsse, es sei denn, dessen Haftung beruhe auf rechtlicher Zurechnung von Verschulden oder von Einkommen/Bereicherung Dritter (BSG, Urteil vom 25.01.1994 - 4 RA 16/92, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16, in diesem Sinne wohl auch BSG, Urteil vom 2...

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