Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Folgenabwägung. Grundsicherung für Arbeitssuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. vorläufige Leistungsgewährung
Orientierungssatz
1. Soweit im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens über die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende an einen Unionsbürger nicht abschließend geklärt werden kann, ob der Aufenthaltstitel allein zum Zweck der Arbeitsuche erteilt ist und ob der Leistungsausschluss gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 greift, so ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Bei dieser Folgenabwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers am einstweiligen Bezug existenzsichernder Leistungen das fiskalische Interesse des Grundsicherungsträgers, an den Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage keine Leistungen erbringen zu müssen. Hierbei wird berücksichtigt, dass der Grundsicherungsträger seine finanziellen Belange durch die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gem §§ 102 ff SGB 10 beim Sozialhilfeträger wahren kann.
2. § 21 S 1 SGB 12 greift nicht bei Hilfebedürftigen, die von Leistungen nach dem SGB 2 ausgeschlossen sind. § 23 SGB 12 ist nicht anwendbar auf ausländische Staatsangehörige eines Vertragsstaates des EUFürsAbk.
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 01.04.2014 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem glaubhaft gemachten Fehlen von Eigenmitteln. Verbleibende Zweifel sind der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht ist, muss offen bleiben. Zwar erfüllt der Antragsteller die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hat seine Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Umstritten und fraglich ist jedoch, ob zu seinen Lasten der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift, weil sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Offen ist, ob die vom Antragsteller im Jahr 2013 ausgeübte Tätigkeit ein anderes Aufenthaltsrecht i.S. der Vorschriften des FreizügG/EU begründet. Insoweit nimmt der Senat auf Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).
Wenn unterstellt wird, dass allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gegeben ist, ist im Hinblick auf die nicht geklärte Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht sowie der ungeklärten Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik zum Europäischen Fürsorgeabkommen betreffend die Leistungen nach dem SGB II (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 29.06.2012 - L 19 AS 973/12 B ER mit Wiedergabe des Meinungsstandes) fraglich, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB eingreift.
Auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist grundsätzlich aufgrund einer abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage zu entscheiden. Ist dies jedoch nicht möglich, ist nach allgemeiner Auffassung, einhelliger Rechtsprechung aller für das Leistungsrecht des SGB II zuständigen Senate des LSG Nordrhein-Westfalen (hierzu nur Beschlüsse des Senats vom 10.03.2014 - L 19 AS 2336/13 B ER, vom 18.02.2014 - L 19 AS 139/14 B ER und vom 29.06.2012 - L 19 AS 973/12 B ER; abweichend LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 26.03.2014 - L 15 AS 16/14 B ER und 18.03.2014 - L 13 AS 363/14 B ER) und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfG Beschlüsse vom 12.05.2005 - B 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 - 1 BvR 2366/12) im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Antragsteller einzustellen sind.
Eine abschließende Klärung der seit Jahren und in mehrer...