Entscheidungsstichwort (Thema)

Interessenabwägung im einstweiligen Rechtsschutz bei vollständiger Absenkung des Arbeitslosengeldes 2

 

Orientierungssatz

1. Lassen sich in der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung die Erfolgsaussichten des Eilantrags nicht eindeutig prognostizieren, so ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Antragsgegners an einem Vollzug des angefochtenen Bescheides und dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers vorzunehmen. Dabei sind bei der Absenkung des Arbeitslosengeldes 2 dessen existenzsichernde Leistungen für den Hilfebedürftigen einerseits und die Frage einer Realisierung des Erstattungsanspruchs durch den Grundsicherungsträger andererseits gegeneinander abzuwägen.

2. Dem Hauptsacheverfahren bleibt die Klärung vorbehalten, ob bei einer Absenkung des Arbeitslosengeldes 2 um 100 % zeitgleich eine Entscheidung über die Gewährung von Sachleistungen zu treffen ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 19.09.2011 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 02.08.2011 wird angeordnet. Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 01.09.2011 bis zum 30.11.2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Dem Antragsteller wird für das Verfahren S 33 AS 3190/11 ER Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt M aus P beigeordnet.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Instanzen.

 

Gründe

Die zulässigen Beschwerden sind begründet. Der Antragsteller hat Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 02.08.2011, mit dem der Antragsgegner für den Zeitraum von September bis November 2011 die Grundsicherung um 100 % absenkte.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Sofern zwischen den Beteiligten streitig ist, ob ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, kann das Gericht auf Antrag durch Beschluss aussprechen, dass die Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung haben (deklaratorischer Beschluss; vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn. 15 m. N. zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG]).

Gemäß § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung; nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung.

Die Erfolgsaussicht des Antrages beurteilt sich nach dem Ergebnis einer Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und dem Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung. Hierbei sind neben einer allgemeinen Abwägung der Folgen bei Gewährung bzw. Nichtgewährung des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfes in der Hauptsache von Bedeutung (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage, § 86b Rn. 12c ff.). Dabei kann nicht außer Acht gelassen werden, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides grundsätzlich Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.07.2006 - L 20 B 144/06 AS ER).

Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung (HdB SGG, Udsching V Rn. 32; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Komm. zum SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 18) lassen sich die Erfolgsaussichten des Eilantrages nicht eindeutig prognostizieren. Der Senat vermag unter Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung nicht festzustellen, inwieweit der Antragsgegner rechtmäßig das Arbeitslosengeld II um 100 % wegen wiederholter Pflichtverletzung für die Zeit von September bis November 2011 minderte. Dies könnte unter Hinweis auf § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II fraglich sein. Danach ist eine Pflichtverletzung dann zu verneinen, wenn ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger einen wichtigen Grund für sein Verhalten nachweist. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzellfalls und des Akteninhalts hat der Antragsteller glaubhaft dargelegt, dass er sich im Zeitraum von Januar bis Juli 2011 in der Notfallambulanz des Evangelischen Krankenhauses P (EKP) wegen akuter Schmerzen im Rücken vorgestellt hat. Zudem hat sich der Antragsteller im Beschwerdeverfahren persönlich bzw. durch den Bevollmächtigten bemü...

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