Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungsrecht: Nacherhebung von Sozialversicherungsbeiträgen. Verjährung von Beitragspflichten. Anforderung an die Annahme eines vorsätzlichen Vorenthaltens der Beiträge bei irriger Annahme eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses. Voraussetzung der Anwendung der Regelungen zur fiktiven Nettolohnabrede bei unterbliebener Meldung zur Sozialversicherung
Orientierungssatz
1. Von einem den Lauf der dreißigjährigen Verjährung von Beitragspflichten zur gesetzlichen Sozialversicherung auslösenden Vorsatz bei der Nichtanmeldung von Beschäftigten zur gesetzlichen Sozialversicherung ist jedenfalls dann nicht auszugehen, wenn ein Arbeitgeber die Anmeldung nach Beratung durch seinen Steuerberater in der Annahme unterließ, bei den Arbeitsverhältnissen handele es sich um versicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, soweit er keinen Grund hatte, an der Richtigkeit dieser Auskunft zu zweifeln.
2. Bei der Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen wegen unterbliebener Anmeldung von Beschäftigten zur Sozialversicherung kommt die Anwendung der Regelung zur fiktiven Nettoentgeltabrede nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB 4 jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der Arbeitgeber bei der unterbliebenen Anmeldung nicht mit dem Vorsatz handelte, die Sozialversicherungsbeiträge vorzuenthalten, sondern rechtsirrig von einer Sozialversicherungsfreiheit (hier: wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung) ausging.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.1.2013 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.2.2012 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 55.695,28 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.2.2012, mit dem diese im Anschluss an eine Betriebsprüfung Beitragsnachforderungen für ausländische Saisonkräfte sowie Säumniszuschläge von insgesamt 220.781,12 EUR geltend macht.
Der Antragsteller betreibt ein landwirtschaftliches Unternehmen, für das er seit langem insbesondere polnische Saisonkräfte zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten wie Pflückarbeiten im Obstbau für weniger als 2 Monate beschäftigt. Es wurde regelmäßig eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden an 6 Tagen in der Woche vereinbart und eine Stundenlohnabrede getroffen. Die Stundenlöhne lagen über die Jahre leicht ansteigend zwischen fünf und sechs Euro. Einige der Arbeitnehmer waren vor Aufnahme der Tätigkeit für den Antragsteller im Heimatland bei der dortigen Arbeitsverwaltung arbeitslos gemeldet. Andere haben im Heimatland von ihren Arbeitgebern unbezahlten Urlaub für die Beschäftigung erhalten, manche für den gesamten Beschäftigungszeitraum, andere nur anteilig. Mit allen Saisonkräften schloss der Antragsteller schriftliche Arbeitsverträge, in denen u.a. die Dauer der Beschäftigung und der Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung vereinbart waren. Für diese Saisonarbeitskräfte waren ferner formschriftliche und von der zuständigen Arbeitsagentur genehmigte Einstellungszusagen vorhanden. Der Antragsteller archivierte zudem Statusfragebögen für die beschäftigten Saisonarbeitnehmer in deutscher Sprache und in der Sprache des jeweiligen Heimatlandes.
Der Antragsteller rechnete die Vertragsverhältnisse als wegen Zeitgeringfügigkeit versicherungsfreie Arbeitsverhältnisse von Aushilfskräften in der Land- und Forstwirtschaft ab, für die er zwar keine Sozialversicherungsbeiträge, jedoch pauschale Lohnsteuer in Höhe von 5 % zahlte. Ausgehend hiervon wurden die Zahlungen an die Saisonarbeitnehmer jedenfalls seit dem Jahr 2000 in die (Lohn-)Buchhaltung des Antragstellers eingestellt.
Im Anschluss an eine in der Zeit vom 3.2.2010 bis zum 15.2.2012 durchgeführte Betriebsprüfung setzte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 22.2.2012 für die Zeit vom 1.8.2002 bis zum 31.12.2009 eine Beitragsnachforderung in Höhe von 220.781,12 EUR einschließlich Säumniszuschlägen von 97.513,00 EUR gegen den Antragsteller fest. Hierzu führt sie im Bescheid u.a. wie folgt aus: Der Antragssteller habe die bei ihm beschäftigten osteuropäischen Saisonarbeiter in den Jahren 2002 bis 2009 nicht bei der zuständigen Einzugsstelle gemeldet. Aus den vorgelegten Einstellungszusagen/Arbeitsverträgen gehe hervor, dass die Arbeitnehmer in allen Fällen mindestens an 6 Tagen in der Woche beschäftigt gewesen seien. Die wöchentliche Arbeitszeit habe 48 Stunden betragen. Für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Zeitgeringfügigkeit sei daher auf einem Zeitraum von 2 Monaten bzw. 60 Tagen im Kalenderjahr abzustellen. In den Einstellungszusagen bei der zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAF) der Arbeitsverwaltung habe der angemeldete voraussichtliche Zeitraum der Beschäftigung zunächst in allen Fällen über den Zeitg...