Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Schätzung der Höhe des Gesamtsozialversicherungsbeitrags durch den Rentenversicherungsträger - einstweiliger Rechtschutz
Orientierungssatz
1. Die Feststellung der Versicherungspflicht und Beitragshöhe durch den Rentenversicherungsträger hat grundsätzlich personenbezogen zu erfolgen. Ausnahmsweise kann dieser nach § 28f Abs. 2 S. 1 und 2 SGB 4 den Sozialversicherungsbeitrag von der Summe der vom Arbeitgeber gezahlten Arbeitsentgelte geltend machen, wenn der Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt hat und dadurch die Versicherungs- oder Beitragspflicht oder die Beitragshöhe nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem Verwaltungsaufwand festgestellt werden kann. In diesem Fall ist die Höhe der Arbeitsentgelte nach § 28f Abs. 2 S. 3 SGB 4 zu schätzen.
2. Haben dem Rentenversicherungsträger alle für die Ermittlung der Beitragshöhe erforderlichen Unterlagen im Verwaltungsverfahren vorgelegen, so war hierdurch eine personenbezogene Zuordnung der gezahlten Arbeitsentgelte möglich.
3. Von einem unverhältnismäßig großen zeitlichen Aufwand personenbezogener Feststellungen ist solange nicht auszugehen, als vollständige Meldelisten und strukturierte Namenslisten zu den einzelnen Mitarbeitern des Unternehmens vorliegen. Dann ist nicht von einem hohen inhaltlichen Schwierigkeitsgrad der personenbezogenen Zuordnung auszugehen, mit der Folge, dass die Schätzung nach § 28f Abs. 2 S. 3 SGB 4 durch den Rentenversicherungsträger ausgeschlossen ist.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 24.8.2020 geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid vom 12.6.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2020 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 717.235,98 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 24.8.2020 ist zulässig und begründet.
Der Senat prüft im Beschwerdeverfahren nicht die sachliche Zuständigkeit des SG Duisburg für den Erlass des angefochtenen Beschlusses (§ 98 S. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG i.V.m. § 17a Abs. 5 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG; vgl. auch B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2020, § 98 Rn. 7 m.w.N.).
Die aufschiebende Wirkung der Klage (anhängig beim SG Gelsenkirchen unter dem Aktenzeichen S 7 BA 1/21) gegen den Bescheid vom 12.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2020 ist anzuordnen.
Gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese auf Antrag ganz oder teilweise anordnen bzw. gem. § 86b Abs. 1 S. 2 SGG eine schon vorgenommene Vollziehung aufheben. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die - wie hier erfolgte - Entscheidung über Beitragspflichten und die Anforderung von Beiträgen sowie der darauf entfallenden Nebenkosten haben gem. § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung. Dies gilt auch für Säumniszuschläge (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 21.10.2020 - L 8 BA 143/19 B ER - juris Rn. 2 m.w.N.).
Die Entscheidung, ob eine aufschiebende Wirkung ausnahmsweise gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsakts andererseits (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 21.10.2020 - L 8 BA 143/19 B ER - juris Rn. 3). Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 S. 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Da § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Suspensivinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlich erscheinen lassen. Hierfür reicht es nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (st. Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 21.10.2020 - L 8 BA 143/19 B ER - juris Rn. 4 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, da ihr Erfolg derzeit überwiegend wahrscheinlich ist. Es spricht nach der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz g...