Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Asylbewerberleistung. Analogleistungen statt Grundleistungen. Anordnungsgrund und -anspruch. verfassungskonforme Auslegung. keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung. Abschiebungshindernis

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das unverfügbare und staatlich einzulösende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) kann nicht davon abhängen, ob der Betroffene die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder sich mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhält.

2. Insofern ist die Leistungsregelung des § 3 AsylbLG jedenfalls verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt, zumal die Geldbetragsleistungen nach § 3 Abs 2 AsylbLG seit 1993 nicht angepasst worden sind und auch 1993 schon unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums nach dem BSHG lagen.

3. Zu möglichen Folgen für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend Leistungen für Asylbewerber.

 

Orientierungssatz

1. Allein die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG sichern das soziokulturelle Existenzminimum iS des Art 1 Abs 1 GG iVm § 20 Abs 1 GG, so dass beim Streit um höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG anstelle Grundleistungen nach § 3 AsylbLG ein Anordnungsgrund besteht.

2. Zur Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer iS von § 2 Abs 1 AsylbLG ist ein sozialwidriges Verhalten des Asylbewerbers erforderlich, welches das Ziel verfolgt, die Aufenthaltsdauer in Deutschland zu verlängern.

3. Ein solches liegt dann nicht vor, wenn der Antragsteller auch ohne eine etwaige Vernichtung von Pässen in der gesamten Zeit des Aufenthalts in Deutschland nicht hätte abgeschoben werden können. Das Unterlassen einer freiwilligen Ausreise genügt hierzu nicht.

4. Erhebliche gesundheitliche Einschränkungen stellen ein Abschiebungshindernis iS von § 60 Abs 7 AufenthG 2004 dar. Sind jedenfalls massive Straftaten des Antragstellers nicht ersichtlich, so ist davon auszugehen, dass der Antragsteller nicht hätte abgeschoben werden können. Eine fehlende Mitwirkung bei der Beschaffung von Passpapieren begründet in einem solchen Fall nicht den Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 09.12.2008 geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern ab Antragstellung (22.10.2008) Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz unter Anrechnung der erbrachten Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz zu erbringen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge.

 

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, ihnen statt der gewährten Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) solche nach § 2 AsylbLG zu gewähren.

Die 1969 geborenen Antragsteller zu 1 und 2 sind Eltern der minderjährigen Antragsteller zu 3 bis 8 (geboren 1992, 1995, 1996, 1998, 2001 und 2002).

Die Antragsteller zu 1 bis 4 reisten im April 1996 aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Als Gründe für den Zweck ihres Aufenthalts gaben sie Probleme in Jugoslawien an. Die Antragsteller zu 5 bis 8 wurden in Deutschland geboren.

Die Antragsgegnerin erteilte den Antragstellern Duldungen (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung). Ausweislich eines Schreibens des Ausländeramtes der Antragsgegnerin vom 04.12.2008 an die Prozessbevollmächtigten der Antragsteller war das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu der Auffassung gelangt, bezüglich der Antragsteller zu 5 und 7 sei von einem zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auszugehen. Ihnen könne deshalb eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt werden, wofür der Besitz eines gültigen Passes sowie die Sicherstellung des Lebensunterhalts nicht erforderlich sei. Da die übrigen Familienmitglieder allenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erhalten könnten, welche jedoch den Besitz eines gültigen Passes sowie eine zumindest anteilige Sicherstellung des Lebensunterhalts durch eigene Erwerbstätigkeit voraussetze, könnten diese weiterhin nur geduldet werden. Hinsichtlich der Antragstellerinnen zu 5 und 7 liegen insofern in der vom Sozialgericht Münster beigezogenen Verfahrensakte des Hauptsacheverfahrens S 16 AY 16/07 Atteste vor. Für die Antragstellerin zu 7 führt darin der Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologie und Anästhesiologie Garcia unter dem 31.07.2007 die Diagnosen fokale Epilepsie mit sekundärer Generalisierung bei Einstellung einer Dauermedikation mit Antikonvulsiva aus. Für die Antragstellerin zu 5 führt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinderkardiologie PD Dr. H unter dem 26.01.2006 aus, bei der Antra...

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