Entscheidungsstichwort (Thema)

Opferentschädigung. richterliche Beweiswürdigung. sich widersprechende Aussagen. Beweiserleichterung

 

Orientierungssatz

1. Die Abhängigkeit des Opfers von den Angaben des Täters im OEG-Verfahren führt nicht dazu, daß die Beweislast hinsichtlich des Nachweises des tätlichen Angriffes umgekehrt wird oder zu Gunsten des Opfers die erleichternde Beweisregelung, daß im Zweifel die Anspruchsvoraussetzungen zu Gunsten der Antragstellerin anzunehmen sind, eingreift (vgl BSG vom 22.6.1988 - 9/9a BVg 4/87 = SozR 1500 § 128 Nr 35). Vielmehr sind die Sozialgerichte im Rahmen der freien Beweiswürdigung gehalten, die Bekundungen des Täters, die Aussagen unmittelbarer Tatzeugen, Aussagen mittelbarer Tatzeugen, Urkunden sowie die Angaben des Opfers, soweit diese nach den Umständen des Falles glaubwürdig, sind zu würdigen.

2. Die im OEG-Verfahren anwendbare Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG, wonach bei Fehlen von Urkunden und Zeugen, auf die nach den Umständen glaubhaften Angaben der Antragstellerin abzustellen ist, führt aber nicht dazu, daß bei sich widersprechenden Bekundungen des Täters und des Opfers und Fehlen weiterer unmittelbarer Tatzeugen, wegen der Beweisnot des Opfers ausschließlich auf die Angaben des Opfers bei der Würdigung des Sachverhaltes abzustellen ist. Es gilt nicht die Beweiserleichterung, daß in tatsächlicher Hinsicht im Zweifel zu Gunsten des Opfers zu entscheiden ist (vgl BSG vom 22.6.1988 - 9/9a BVg 4/87 = SozR 1500 § 128 Nr 35).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.07.1999; Aktenzeichen B 9 VG 6/99 B)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt vom Beklagten Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).

Die 1942 geborene Klägerin ist geschieden und lebt seit 1990 allein.

Am Samstag, dem 11.12.1993 traf sie zum erstenmal den Zeugen D., den sie über eine Kontaktanzeige kennengelernt hatte. Nach dem Besuch eines Restaurants und einer Kneipe übernachtete die Klägerin ungeplant in der Wohnung des Zeugen D.. Beim Verlassen des Hauses am 12.12.1993 gegen ca. 17.00 Uhr stürzte die Klägerin auf der Treppe zur Haustür und erlitt eine Fraktur des linken Sprunggelenkes.

Die Klägerin stellte am 17.12.1993 einen Antrag auf Güteverhandlung beim Schiedsmann. Dabei gab sie an, der Zeuge D. habe ihr am 12.12.1993 gegen 18.00 Uhr einen Stoß an der Haustür zur Straße versetzt. Sie sei die vier Stufen der Treppe heruntergestolpert und habe sich dabei den Knöchel gebrochen. Vor dem Stoß habe der Zeuge D. sie mit einer Bierflasche bedroht, die er ihr über den Kopf habe hauen wollen, wenn sie nicht mit ihm ins Bett gehe. Der Zeuge D. bestritt das Vorbringen der Klägerin beim Schiedsmann.

Nachdem die Haftpflichtversicherung des Zeugen D. sich geweigert hatte, den von der Klägerin geltend gemachten Schaden zu erstatten, erhob die Klägerin im Juli 1994 eine Schadensersatzklage vor dem Amtsgericht Bielefeld, 15 C 527/94. Sie trug u.a. vor, als der Zeuge D. sie sexuell bedrängt und sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen habe, sei es am fraglichen Tag gegen 18.00 Uhr zwischen ihnen zum Streit gekommen. Daraufhin habe der Zeuge D. sie aus dem Haus geworfen, wobei sie einen Stoß von dem Zeugen D. erhalten habe, als sie sich unmittelbar an der Haustür befunden hätten. Sie sei von der Treppe vor dem Haus heruntergefallen und habe einen schweren Knöchelbruch erlitten. Das Amtsgericht lehnte mit Beschluß vom 29.08.1994 den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht ab. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Landgericht Bielefeld mit Beschluß vom 10.10.1994 zurück. Daraufhin sah die Klägerin von einer Weiterverfolgung ihrer Schadensersatzforderung ab.

Im Dezember 1993 beantragte die Klägerin beim Beklagten Versorgung nach dem OEG wegen der Folgen einer Körperverletzung. Sie legte ergänzend dar, durch ihre Hilfeschreie sei ein älteres Ehepaar, das seinen Namen nicht angegeben hätte, auf sie aufmerksam geworden. Dieses habe den Rettungswagen informiert. Daraufhin holte der Beklagte eine Auskunft der AOK B. sowie Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und zog die Unterlagen über die Güteverhandlung sowie die Akte des Amtsgerichts Bielefeld, 15 C 527/94, bei. Mit Bescheid vom 28.02.1995 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, der von der Klägerin beschuldigte Täter habe nicht vorsätzlich gehandelt und nach dem Ergebnis der Ermittlungen allenfalls eine fahrlässige Körperverletzung begangen.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch, den der Beklagte am 11.10.1995 zurückwies. Er führte aus, es könne nicht der Nachweis erbracht werden, daß es sich bei dem Vorfall am 12.12.1993 um einen Tatbestand i. S. d. § 1 OEG gehandelt habe. Es sei durchaus möglich, daß der Zeuge D. den Unfall, der zu den Verletzungen der Klägerin geführt habe, nur fahrlässig verursacht habe; es könne auch nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin auf der Treppe ohne Fremdbeteiligung zu Fall gekommen sei. Zeugen des Geschehens seien nicht vor...

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