Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Beschäftigung im Ghetto Wilna/Litauen als Ghettobeitragszeit
Orientierungssatz
1. Es kann davon ausgegangen werden, dass zwischen September 1941 und September 1943 in Wilna/Vilnius in Litauen ein geschlossenes Ghetto bestanden hat.
2. Ob dort für geleistete Arbeit gewährte Lebensmittel als Entgelt zu bewerten sind, hängt davon ab, ob sie das Maß des persönlichen Bedarfs überschritten haben und zur freien Verfügung gewährt worden sind.
3. Eine systematische Vergütung in Zloty ist im Ghetto Wilna/Vilnius auszuschließen. Eine Barentlohnung war zwar möglich, jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.11.2007 geändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Witwenrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten im Ghetto Wilna/Vilnius (Litauen) in der Zeit von September 1941 bis September 1943.
Die am 00.00.1929 geborene Klägerin war seit 1956 verheiratet mit dem am 00.00.1927 geborenen und am 00.08.1997 verstorbenen jüdischen E S (S). Die Klägerin hat nach dem Tode des S nicht wieder geheiratet. S besaß zuerst die polnische, dann die sowjetische und zuletzt die israelische Staatsangehörigkeit. Er gehörte nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an. Während des zweiten Weltkrieges lebte er in Wilna und war dort der Verfolgung durch den Nationalsozialismus ausgesetzt. Nach Ende des Krieges und Eheschließung mit der Klägerin übersiedelte S im Jahre 1959 nach Israel, wo er 394 Beitragsmonate zur israelischen Nationalversicherung zurücklegte.
Ein Verfahren nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) machte S nicht anhängig. Er beantragte allerdings im Jahr 1993 bei der Jewish Claims Conference (JCC) Leistungen aus dem "Art-2-Fonds". In diesem Antrag gab er am 21.02.1993 an: "Gleich nach der Besetzung von Vilnius begannen die Judenverfolgungen. Im September 1941 wurde unsere Familie ins Ghetto eingewiesen. Meine Eltern sind im Ghetto umgebracht worden (in Ponary). Im Ghetto blieb ich bis Herbst 1943, als ich nach Estland zur Arbeit gebracht wurde. In Estland schuftete ich bis Herbst 1944, als ich nach Stutthof deportiert wurde. Befreit war ich in Stutthof durch die Russen.".
Am 14.04.2003 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Witwenrente aus der Versicherung des S unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). In dem daraufhin von der Beklagten übersandten Formularfragebogen gab die Klägerin an, S habe im Ghetto Wilna von September 1941 bis September 1943 in den Ghettowerkstätten - Abteilung Holzschuhe - durch Vermittlung des Judenrates gearbeitet und 10 bis 12 Stunden am Tag Holzschuhe gegen ein kleines Entgelt in Zloty hergestellt. Die genaue Höhe sei nicht erinnerlich. Sachbezüge habe er nicht erhalten, aber Rationen und Unterkunft im Ghetto.
Die von der Klägerin benannte Zeugin M T1 teilte auf Anfrage mit, sie sei von August 1941 bis Juni 1944 im Ghetto Schaulen gewesen. Sie sei weder während des Zweiten Weltkriegs mit S zusammen noch überhaupt mit ihm bekannt gewesen.
Mit Bescheid vom 10.12.2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin ab. Gegenüber der JCC sei die jetzt behauptete Beschäftigung nicht erwähnt worden. Zur Begründung ihres dagegen eingelegten Widerspruches übersandte die Klägerin einen Auszug aus der Liste der Gefangenen des Ghettos Wilna, in der S als Tischler/Schreiner aufgeführt ist. Dies bestätige die behauptete Tätigkeit in der Abteilung für Holzschuhherstellung der Ghettowerkstätten. Zugleich legte sie eine "eidesstattliche Versicherung" des K T vom 23.01.2005 vor, der erklärte: "Wie Herr S bin ich in Wilna geboren. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde ich, wie alle Juden, im August 1941 ins Ghetto eingewiesen. Herrn S kannte ich aus dem Ghetto. Wir wohnten im Ghetto nicht weit voneinander entfernt und die jungen Leute trafen sich auf der Straße. Bei diesen Treffen erzählte mir Herr S über seine Arbeit und was ihm sonst im Ghetto bisher widerfahren war. So wusste ich, dass er in den Ghettowerkstätten in der Abteilung für Holzschuhherstellung arbeitete. Ich arbeitete nicht mit Herrn S zusammen. Mir ist nicht bekannt, wie Herr S im Einzelnen entlohnt wurde. Allerdings weiß ich, dass die Arbeiter, die in der Produktion beschäftigt war, ebenso wie ich bei der Arbeit in der Werkstatt, einen kleinen Barlohn erhielten. Ich nehme an, dass Herr S, da er Holzschuhe herstellte, ebenfalls für seine Arbeit Geld erhielt, auch wenn es wohl nicht viel war. Ich weiß nicht, wo Herr S die weiteren Kriegsjahre verbrachte, denn unsere Wege trennten sich im Oktober 1943."
Mit Widerspruchsbescheid vom 24.05.2005 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Freiwi...