Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugehörigkeit von vertriebenen Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Mehrsprachigkeit. Beherrschung der deutschen Schriftsprache
Orientierungssatz
Zur Zugehörigkeit eines vertriebenen Verfolgten zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu Beginn seiner nationalsozialistischen Verfolgung und der damit verbundenen Anwendung des § 17a FRG bzgl der Anerkennung behaupteter ausländischer Versicherungszeiten.
Nachgehend
Tatbestand
Der ... 1923 in U/damals CSR geborene jüdische Kläger, der als Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt ist und seit 1949 als israelischer Staatsbürger in Israel lebt, beantragte im Dezember 1990 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Berlin, ihm unter Anerkennung von Fremdrentenzeiten und nach Zulassung zur Nachentrichtung sowie Weiterversicherung freiwilliger Beiträge Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren. Dazu gab er in dem Antragsvordruck vom 09.05.1991 an, daß er nach Beendigung einer Fachschule für Tischlerei von Anfang 1941 bis April 1944 als Tischler in der Möbelfabrik U in Budapest/ Ungarn gearbeitet und Beiträge zur ungarischen Versicherung entrichtet habe. Er gehöre dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) an.
In dem Fragebogen zur Feststellung seiner Zugehörigkeit zum dSK vom 09.05.1991 ergänzte der Kläger, daß er von 1929 bis 1937 die Volksschule in U mit den Unterrichtssprachen Tschechisch und Deutsch und danach bis 1940 die Fachschule mit den Unterrichtssprachen Deutsch und Tschechisch besucht habe. Von 1944 bis 1945 sei er der Verfolgung ausgesetzt gewesen. Seine und seiner Eltern Muttersprache sei ebenso wie ihr persönlicher Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet Deutsch gewesen. Sie hätten nicht jiddisch gesprochen. Seine Ehefrau habe er 1979 in Israel geheiratet.
Zur Bestätigung seiner Angaben übersandte der Kläger der Beklagten, an die das Verfahren zuständigkeitshalber abgegeben worden war, "Versicherungen an Eides statt" des D (B) C aus R/Israel vom 20.10.1991 und des F B aus R vom 14.10.1991. Darin führte der 1925 geborene Zeuge C aus, daß er die gleiche Schule wie der Kläger besucht habe. Er könne bezeugen, daß der Kläger von September 1937 bis Ende 1940 den Beruf des Tischlers in der Berufsschule O in U erlernt habe. Danach sei er von Anfang 1941 bis zum Verfolgungsbeginn im April 1944 als Tischler in dem Budapester Möbelhaus U beschäftigt gewesen. Der 1926 geborene Zeuge B bekundete ebenfalls, daß er dieselbe Schule wie der Kläger besucht habe. Er könne bezeugen, daß dieser von September 1937 bis Ende 1940 in der Berufsschule Orth in U den Beruf des Tischlers erlernt habe. Ab Anfang 1941 sei der Kläger bis zum Beginn der Verfolgung im April 1944 als Tischler in der Möbelfabrik U in Budapest beschäftigt gewesen.
Die Heimatauskunftstelle Slowakei einschließlich Karpatho-Ukraine in S berichtete in der der Beklagten am 06.03.1992 übersandten Auskunft, daß U 1928/1930 insgesamt 26.675 Einwohner gehabt habe. Davon seien 8.146 Slowaken und Tschechen gewesen, 6.729 Ruthenen, 7.357 Glaubensjuden, 6.239 Nationaljuden, 4.774 Ungarn und 540 Deutsche. Es habe eine tschechische, zwei russische, zwei ungarische, eine gemischt slowakisch-ungarische, eine jüdisch-tschechische und eine jüdisch-hebräische Schule gegeben. Der Ort sei ungarisch-tschechoslowakisch geprägt gewesen. Deutsch habe weder als Geschäfts- noch als Umgangssprache eine Rolle gespielt. Die jüdische Bevölkerung habe weitgehend ein Eigenleben geführt, sich der jiddischen Sprache bedient und habe nicht mit dem deutschen Volkstum in Verbindung gebracht werden wollen. Sie sei eher dem ungarischen Sprach- und Kulturkreis verbunden gewesen.
Der ungarische Versicherungsträger in Budapest teilte in der Auskunft vom 02.03.1993 mit, daß folgende Arbeitsverhältnisse des Klägers bestätigt werden könnten:
vom 22.03.1943 bis 10.04.1943 und
vom 31.05.1943 bis 02.06.1944.
Die Beklagte zog die den Kläger betreffenden Entschädigungsakten des Amts für Wiedergutmachung in S bei. Aus den daraus gefertigten Kopien ergibt sich, daß der Kläger in seinem Antrag auf Entschädigung nach dem BEG vom 04.07.1954 die Frage nach dem erlernten Beruf nicht ausgefüllt hat. In einer eigenen "Eidlichen Erklärung" -- ohne Datum -- hatte der Kläger erklärt, daß er zur Zeit der teilweisen Besetzung der CSR durch die Ungarn im Herbst 1939 in Z gewohnt habe. Im Frühjahr 1941 sei er nach Budapest gegangen, um ein Fach zu erlernen; er habe dort eine Schule besucht. Ab Januar 1942 habe er Zwangsarbeiten verrichten müssen, wie Säuberungsarbeiten, Schneeschaufeln und Aufräumarbeiten. Im Frühjahr 1943 sei es ihm gelungen, in einem Kinderheim unterzukommen, wo er schließlich im April 1944 von der Gestapo verhaftet worden sei.
Diese Angaben wurden von den Zeugen B C (C) in einer "Eidlichen Erklärung" vom 17.10.1956 und F B in einer "Eidlichen Erklärung" vom 23.10.1956 bestätigt.
Auf Nachfrage der...