Entscheidungsstichwort (Thema)

Zahlbarmachung von Rente aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Ghetto Stacharowice/Polen. rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. Entgeltlichkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Anerkennung einer sog Ghetto-Beitragszeit setzt ua voraus, dass die in einem geschlossenen Ghetto gegen Entgelt ausgeübte Beschäftigung durch eigenen Willensentschluss zustande gekommen ist. Bei dem in Stacharowice/Polen im Stadtteil Wierzbnik gelegenen Ghetto handelte es sich um ein geschlossenes Ghetto.

2. Beschäftigung ist jede nicht selbständige Arbeit. Kinder im Alter von nur 12 Jahren unterlagen also unter den extremen Verhältnissen des Ghettos bereits ab diesem Alter denselben Bedingungen wie Erwachsene und konnten demgemäß wie diese auch entgeltlich beschäftigt sein.

3. Ein eigener Willensentschluss iS des ZRBG liegt vor, wenn die Arbeit vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto noch auf einer, wenn auch auf das Elementarste reduzierten Wahl zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten beruhte.

4. Die Gewährung von Entgelt in Form von Zloty oder Reichsmark führt zur Entgeltlichkeit der Beschäftigung. Dem steht nicht entgegen, dass Lohnbestandteile an den Judenrat abgezweigt wurden. Bis zu einer Untergrenze von einem Sechstel des Ortslohnes für polnische Arbeiter ist Entgeltlichkeit iS des ZRBG anzunehmen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 02.06.2009; Aktenzeichen B 13 R 139/08 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgericht Düsseldorf vom 8. Juni 2007 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor im Hauptausspruch wie folgt gefasst wird:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.6.2005 verurteilt, der Klägerin Altersrente unter Berücksichtigung einer Ghettobeitragszeit vom 02.04.1941 bis 27.10.1942 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ab dem 01.07.1997 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu vier Fünftel.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente nach dem Gesetz über die Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der Deutsche Bundestag im Juni 2002 einstimmig beschlossen hat (Bundesgesetzblatt Teil I - BGBl I - 2074). Es geht um Ghettobeitragszeiten im Ghetto Starachowice für April 1941 bis Oktober 1942.

Die Stadt Starachowice, rund 200 km südöstlich von Warschau gelegen, war vor allem wegen ihrer vom polnischen Staat ab 1935 aufgebauten Stahl- und Munitionsfabriken von wirtschaftlicher Bedeutung. Vor 1939 bestand der Ort aus zwei Teilen: Einem neuen Industriekomplex mit modernen Wohnsiedlungen (dies war das eigentliche Starachowice) und in zwei Kilometern Entfernung der alten Ortschaft Wierzbnik. Die Stadt selber hatte rund 28.000 Bewohner, davon etwa 3.000 Juden, die überwiegend als Handwerker tätig waren und fast alle in Wierzbnik lebten.

Am 6. September 1939 besetzten deutschen Truppen die Stadt Starachowice. Der Ort wurde dem Distrikt Radom zugeschlagen, der neben Warschau, Krakau, Lublin und später auch Galizien einen der Verwaltungsbezirke des von den Nationalsozialisten neu geschaffenen Generalgouvernements Polen (GenGov) bildete. Die Kreisstadt Starachowice hatte innerhalb des Distrikts keine herausgehobene Stellung und folgte den für das Generalgouvernement überlieferten Umständen. Das Amt des lokalen Chefs der deutschen Zivilverwaltung, d.h. des so genannten Kreishauptmanns, hatte bis zur Befreiung der Stadt Ende 1944 Hans Zettelmeyer inne. Er hatte weit reichende, nicht durch lokale Kontrollgremien beschränkte Kompetenzen. Spezifische Befehlswege bestanden zwischen der deutschen und der polnischen und der jüdischen Selbstverwaltung. So folgten die polnische und jüdische Administration den Weisungen des Kreishauptmanns. Neben die Verwaltung traten die Einheiten von SS und Polizei, die unmittelbar Ausführende des Massenmordes an Juden und der Misshandlungen waren, da sie die Bewachung, Deportation und Exekution der Juden durchführten. Die Außendienststelle der Gestapo in Starachowice mit 8 - 9 Deutschen sowie 10 - 15 polnischen Mitarbeitern existierte bis Oktober 1941. Das Kriminalkommissariat leitete SS-Untersturmführer Walter Becker von Juni 1940 bis zur Befreiung der Stadt.

Die Industrie von Starachowice - ein Hüttenwerk mit Erzgrube sowie ein dazugehöriger Forstbetrieb inklusive Sägewerk - unterstand der Wehrwirtschaftsstelle Radom. Die wichtigen Stahl- und Munitionswerke produzierten direkt für die Wehrmacht. Diese entsandte den Hauptmann Thiemann als so genannten Industriebeauftragten nach Starachowice. Er beaufsichtigte dort die Produktion, half bei der Beschaffung von Arbeitskräften und verhinderte Zugriffe von anderen deutschen Institutionen. Die technische und wirtschaftliche Leitung der dortigen Schwerindustrie wurde im Herbst 1940 den staatseigenen Hermann-Göring-Werken über...

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