Entscheidungsstichwort (Thema)

Anerkennung einer Ersatzzeit. nationalsozialistische Verfolgung. verfolgungsbedingter Aufenthalt. Auswanderung

 

Orientierungssatz

1. Durch die Anerkennung einer Verfolgungsersatzzeit soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung Beitragszeiten "im Herkunftsort" nicht zurückgelegt werden konnten; § 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6 schützt mithin (nur) die Situation, die zu Beginn der Verfolgungszeit bestand und die ohne die Verfolgungsmaßnahme fortgedauert hätte (vgl BSG vom 8.9.2005 - B 13 RJ 20/05 R und BSG vom 14.8.2003 - B 13 RJ 27/02 R = BSGE 91, 198 = SozR 4-2200 § 1251 Nr 1).

2. Eine Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts hat den Sinn, zunächst den Verfolgten dafür zu entschädigen, dass allein schon der (erzwungene) Aufenthalt im Ausland dem Erwerb inländischer Versicherungszeiten entgegenstand (vgl BSG vom 15.10.1985 - 11a RA 32/84 = BSGE 59, 23 = SozR 2200 § 1251 Nr 116), und nach dem Kriegsende dem Verfolgten Gelegenheit zu geben, die Frage und die Möglichkeiten einer Rückkehr innerhalb einer angemessenen Zeitspanne zu überdenken; dieses Zwischenstadium ende jedoch, sobald im Inland Aufenthalt genommen worden sei (vgl BSG vom 1.7.1970 - 4 RJ 353/69 = SozR Nr 46 zu § 1251 RVO und BSG vom 5.2.1976 - 11 RA 44/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 17).

3. Aus der Entscheidung des BSG vom 29.3.2006 - B 13 RJ 7/05 R = SozR 4-2600 § 250 Nr 2 kann nicht entnommen werden, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland im Anschluss an den Aufenthalt in den (ehemaligen) eingegliederten und besetzten Gebieten als Voraussetzung für die Anerkennung einer verfolgungsbedingten Ersatzzeit vorliegen muss.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 19.05.2009; Aktenzeichen B 5 R 96/07 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.07.2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die notwendigen Kosten des Klägers im zweiten Rechtzug. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Rahmen seiner Regelaltersrente die Berücksichtigung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenhalts für August 1945 bis Dezember 1949.

Der im Oktober 1928 in Lodz, Polen, geborene Kläger ist Jude und anerkannt Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (Bescheid des Regierungsbezirksamtes Koblenz vom 31.08.1956). Von Mai 1940 bis August 1944 musste sich der Kläger im Ghetto Lodz aufhalten, anschließend wurde er in das Konzentrationslager Auschwitz und sodann in die Lager Kaltwasser, Tannhausen und zuletzt Schotterwerk in Schlesien verbracht, wo er am 08.05.1945 befreit wurde. Nach seiner Befreiung hielt sich der Kläger zunächst bis Januar 1946 in Tschenstochau und anschließend bis April 1947 in Lodz auf, jeweils, um dort Familienangehörige zu suchen. Über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien wanderte er sodann nach Israel aus. Dort lebt er seit September 1947.

Der Kläger erhält von der Beklagten unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 (Bescheid der Beklagten vom 11.06.2003). Dabei erkannte die Beklagte die Zeit vom 01.07.1942 bis zum 31.08.1944 als Ghetto-Beitragszeit und die Zeit vom 01.09.1944 - 08.05.1945 als Ersatzzeit (NS-Verfolgungszeit als Beitragszeit) an.

Aufgrund des Widerspruchs des Klägers mit dem Ziel der Berücksichtigung weiterer Zeiten, nämlich Ersatzzeiten wegen einer an die Befreiung anschließenden Krankheitszeit ab dem 09.05.1945 und eines anschließenden verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts, zog die Beklagte vom Amt für Wiedergutmachung in Saarburg die Entschädigungsakte des Klägers bei. Nach Auswertung der Entschädigungsakte stellte die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 15.03.2004 die Regelaltersrente des Klägers neu fest unter Berücksichtigung der Zeit vom 09.05.1945 bis zum 08.08.1945 als Ersatzzeit (verfolgungsbedingte Arbeitsunfähigkeit als Beitragszeit). Die Berücksichtigung der Zeit vom 09.08.1945 bis Dezember 1949 lehnte die Beklagte hingegen ab. Zur Begründung führte sie aus, die beigezogene Entschädigungsakte enthalte zwar keine Hinweise über eine nach der Befreiung (08.05.1945) vorliegende Arbeitsunfähigkeit. Aufgrund des Verfolgungsschicksals des Klägers erkläre sie sich aber bereit, eine verfolgungsbedingte Arbeitsunfähigkeit im Umfang von drei Monaten (vom 09.05.1945 bis 08.08.1945) anzuerkennen. Die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes könne jedoch nicht erfolgen. Ein nach dem 08.05.1945 begründeter Auslandsaufenthalt könne nur dann als Ersatzzeit berücksichtigt werden, wenn er in einem ursächlichen Zusammenhang mit früheren Verfolgungszeiten stehe. Aus der Entschädigungsakte ergebe sich, dass der Kläger nach der Befreiung bis April 1947 nach Polen zurückgekehrt sei, um seine Familie zu suchen (Tschenstochau bzw. Lodz). Erst ab April 1947 sei er über die Tschechoslowakei, Österreich und Italien im September 19...

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