Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Ersatzzeit. nationalsozialistische Verfolgung. verfolgungsbedingter Aufenthalt. Auswanderung
Orientierungssatz
1. Für die Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten ist weder ein anfänglicher Aufenthalt noch eine Rückkehr im bzw ins "Kerngebiet" des Deutschen Reiches erforderlich (vgl LSG Essen vom 15.6.2007 - L 14 R 363/06).
2. Aus dem BSG Urteil vom 29.3.2006 - B 13 RJ 7/05 R = SozR 4-2600 § 250 Nr 2 lässt sich nicht schließen, dass ein Aufenthalt in Deutschland im Anschluss an den Aufenthalt in den (ehemaligen) eingegliederten oder besetzten Gebieten grundsätzlich Voraussetzung für die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes ist; denn dies würde eine völlige Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BSG bedeuten (vgl BSG vom 13.9.1978 - 5 RJ 86/77 = SozR 2200 § 1251 Nr 51 und BSG vom 14.8.2003 - B 13 RJ 27/02 R = BSGE 91, 198 = SozR 4-2200 § 1251 Nr 1).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.01.2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes bzw. einer Anschlussersatzzeit wegen Arbeitsunfähigkeit streitig.
Der ... 1921 in K bei L geborene Kläger ist jüdischen Glaubens und Verfolgter im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz - BEG - (vgl. den mit dem Bezirksamt für Wiedergutmachung in K geschlossenen Vergleich vom 06.05.1963). Vor der Verfolgung lebte er in Warschau. Im November 1940 wurde der Kläger in das dortige Ghetto eingewiesen, in dem er im Judenrat als Büroarbeiter tätig war. Ende Juli 1942 flüchtete er mit einigen Arbeitskollegen aus dem Ghetto und versteckte sich mit ihnen bei katholischen Frauen in W (bei W). Dort lebte er bis zu seiner Befreiung im Januar 1945.
Zu seinem weiteren Verfolgungsschicksal gab der Kläger anlässlich seines Antrages auf Entschädigungsleistungen nach dem BEG wegen eines Freiheitsschadens in einer eidlichen Aussage am 15.11.1962 an, dass er nach der Befreiung nach Walbrzych (Waldenburg) gezogen sei und sich dort niedergelassen habe. Im Jahre 1946 habe er geheiratet und sei mit seiner Ehefrau und der einjährigen Tochter 1948 nach Israel ausgewandert.
Im Juni 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente aufgrund von Ghettobeitragszeiten. In dem Rentenantragsformular führte der Kläger aus, dass er nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehöre und sich seit 1948 in Israel aufhalte. Mit Bescheid vom 14.07.2004 bewilligte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 in Höhe von damals 167,75 Euro monatlich. Der Berechnung der Rente legte sie rentenrechtliche Zeiten vom 01.11.1940 bis zum 17.01.1945 (= Tag der Befreiung des Klägers), u. a. eine "Ghettobeitragszeit" vom 01.11.1940 bis zum 31.07.1942, zugrunde. Der Kläger legte am 22.07.2004 Widerspruch ein und machte geltend, die Zeit bis zum 31.12.1949 sei als Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts bzw. als Zeit der Arbeitsunfähigkeit im Anschluss an Zeiten der Freiheitsentziehung bzw. -beschränkung ergänzend zu berücksichtigen. Insoweit führte der Kläger aus, nach der Befreiung im Januar 1945 nach Walbrzych gegangen zu sein. Dort habe er im März 1946 geheiratet und sich mit Hilfe der jüdischen illegalen Einwanderungsorganisation auf den Weg nach Palästina gemacht. Er und seine Frau seien über die Tschechoslowakei zunächst nach Österreich in das Lager Admont gekommen, wo sie etwa 1/2 Jahr lang fest gesessen hätten. Dann hätten sie nach Italien weiterfahren können und seien bis nach der Geburt der Tochter M in einem Ort bei Turin geblieben. Das Schiff, das sie nach Palästina hätte bringen sollen, sei von den Engländern aufgebracht worden und sie seien in Zypern interniert worden. Von dort aus hätten sie dann endlich im Februar 1948 nach Palästina einwandern können. In dem gesamten Zeitraum von seiner Befreiung bis Ende 1949 sei er verfolgungsbedingt krank und dadurch arbeitsunfähig gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2005 wies der Widerspruchsausschuss den Widerspruch als unbegründet zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass ein verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt nicht als Ersatzzeit anerkannt werden könne, weil der Kläger nach seiner Befreiung in Wlochy nicht das "Inland" verlassen habe.
Der Kläger hat am 20.07.2005 Klage erhoben, mit der er weiterhin die Anerkennung einer Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts bzw. Arbeitsunfähigkeit vom 18.01.1945 bis zum 31.12.1949 begehrt und ergänzend vorgetragen hat, sich nach seiner Befreiung zunächst in seine Geburtsstadt Konin begeben zu haben, wo er vor dem Krieg mit den Eltern im eigenen Haus der Familie gewohnt habe, um dort nach überlebenden Familienmitgliedern zu suchen. Er habe dort jedoch niemanden vorgef...