Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto als fiktive Beitragszeit. Regelaltersrente. Fktive Beitragszeiten. Rentenversicherungspflicht. Entgelt. Verpflegung. Freiwilligkeit. Zwangsarbeit. Ghetto. Bewachung. Shop
Orientierungssatz
1. Beitragszeiten der Rentenversicherung sind auch solche Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als bezahlt gelten (fiktive Beitragszeiten). Beiträge gelten als gezahlt, wenn ein Verfolgter eine rentenversicherungsrechtliche Beschäftigung in einem Ghetto, in dem er sich zwangsweise aufhielt, ausgeübt hat. Dabei genügt Glaubhaftmachung.
2. Sowohl die Tätigkeit im Ghetto als auch deren Rentenversicherungspflichtigkeit sind glaubhaft zu machen. Für eine Versicherungspflichtigkeit ist erforderlich, dass die Tätigkeit aus eigenem Antrieb aufgenommen und freiwillig aufrechterhalten worden ist. Für das Entstehen von Versicherungspflicht ist weiter erforderlich, dass das Arbeitsentgelt einen Mindestumfang erreicht.
3. Beschäftigungsverhältnis und Zwangsarbeit schließen sich begrifflich aus. Zwangsarbeit ist Arbeit unter obrigkeitlichem Zwang. Arbeit, welche unter hoheitlichen Eingriffen verrichtet wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, ist Zwangsarbeit.
Normenkette
SGB VI §§ 7, 35, 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1, 4, § 55 S. 2, § 247 Abs. 3 S. 1; WGSVG § 3 Abs. 1, § 12; ZRBG § 2; RVO §§ 160, 1226 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 1227
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.05.2004 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Regelaltersrente. Dabei geht es um die Fragen, ob eine Tätigkeit der Klägerin im Ghetto Sosnowiec / Ost-Oberschlesien (Sosnowitz / Polen) von Februar 1940 bis März 1943 - auch unter Beachtung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) - rentenversicherungsrechtlich zu berücksichtigen ist und ob verfolgungsbedingte Ersatzzeiten sowie eine Nachentrichtungsberechtigung bestehen.
Die jüdische Klägerin wurde als polnische Staatsangehörige am 00.00.1927 in T geboren. Sie ist als Verfolgte im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt (Feststellungsbescheid des Bezirksamtes für Wiedergutmachung in T1 vom 13.10.1958). In T besuchte die Klägerin von 1933 bis 1939 die Volksschule. Ab November 1939 musste sie den Judenstern tragen. Während sie in dem jüdischen Wohnbezirk von T lebte, arbeitete sie nach ihrem Vortrag von Februar 1940 bis März 1943 in einem "Ledershop" des B E. Anschließend befand sie sich bis zu ihrer Befreiung am 09.05.1945 zwangsweise im Lager Faulsbruek und verrichtete von dort aus in S Arbeiten in einer Weberei. Sie wanderte im Juli 1946 über Belgien nach Israel aus und erwarb die israelische Staatsangehörigkeit. Beiträge zur israelischen Nationalversicherung hat die Klägerin nach ihren Angaben nicht entrichtet. Sie bezieht von dort eine Hinterbliebenenrente.
In ihrem Entschädigungsverfahren vor dem Amt für Wiedergutmachung in T1 erklärte die Klägerin in einer eidlichen Erklärung vom 01.02.1956: "Vor dem Krieg wohnte ich mit meinem Eltern in T, in der Lstrasse 7. Ich war Schülerin. Im Januar 1940 kam ich in das Ghetto Sosnowitz. Ich wohnte weiter in der Lstrasse und arbeitete im Ledershop bei der Firma E, Xstrasse 6. Das Ghetto war streng bewacht. Ich trug Armbinde mit Judenstern. Im März/April 1943 kam ich über das Dulag T und das KZ Gogolin in das ZAL Faulbrueck."
In einem Antrag auf Entschädigung für Schaden an Körper und Gesundheit vom 06.01.1964 führte die Klägerin aus:
"Ich war erst 12 Jahre alt, als die Verfolgungen begannen. Ich kam ins Ghetto Sosnowitz, wo ich trotz meiner Jugend, ich war noch ein Kind, zu Zwangsarbeiten herangezogen wurde. Ich arbeitete im Ledershop beim Sortieren der Lederabfälle, musste schwere Körbe schleppen, verbrachte mehrere Stunden täglich in einem kalten Raum, hungernd und frierend."
Im Rahmen von Begutachtungen durch Dr. C am 12.03.1971 und Dr. G am 01.10.1972 wurde an anamnestischen Angaben der Klägerin aufgeführt:
"1940 hatte sie ihre Wohnung zu räumen und mit der Familie ins Ghetto umzuziehen. Sie arbeitete im Ledershop, um die gelbe "Arbeiterkarte" beibehalten zu können, die sie vermeintlich gegen "Verschickung" schützen sollte. Die Arbeitsstunden waren lang, die Bedingungen hart, die Belegschaft grausam. 1943 wurde sie von den Eltern getrennt und ins KZ Gogolin gebracht."
"Sie kam im Januar 1940 ins Ghetto, im März 1943 ins KZ Gogolin ... Im Alter von 12 Jahren wurde sie zur Zwangsarbeit herangezogen, war dann praktisch 6 Jahre schweren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt."
In dem Entschädigungsverfahren der Klägerin gaben die Zeuginnen S1 S2 (geboren 1923 in T) und A N (geboren 1903 in T) eidliche Erklärungen ab:
"Wir kannten uns bereits vor dem Krieg aus T. Im Januar 1940 wurden wir beide ins Ghetto Sosnowitz eingewiesen. Ich wohnte Q 15, die L1 L 7. Ich arb...