Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen H. Hilflosigkeit. Entziehung des Merkzeichens trotz vorhergehender Verlängerung des Schwerbehindertenausweises. Schwerbehindertenausweis kein Verwaltungsakt. kein Vertrauensschutz auf darin enthaltene Feststellungen. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. wesentliche Änderung der Verhältnisse. Erreichen des 16. Lebensjahres bei Diabetes-Erkrankung. erhebliches Zuwarten der Behörde bis zum Erlass des Aufhebungsbescheids. Rechtsstaatsprinzip. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Verwirkung nur in Ausnahmefällen. unbekanntes Zugangsdatum. Bekanntgabefiktion
Orientierungssatz
1. Die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises ist nicht als Verwaltungsakt iS des § 31 SGB 10 zu qualifizieren.
2. Ein Schwerbehindertenausweis hat keine konstitutive Bedeutung für die darin verlautbarten Feststellungen (vgl BSG vom 26.2.1986 - 9a RVs 4/83 = BSGE 60, 11 = SozR 3870 § 3 Nr 21), sodass ein schwerbehinderter Mensch auf die Verlängerung des Schwerbehindertenausweises kein schützenswertes Vertrauen für die Beibehaltung des darin ausgewiesenen GdB oder der aufgeführten Merkzeichen gründen kann .
3. Die Entscheidung des SG Aachen vom 28.6.2016 - S 18 SB 114/16 steht dem nicht entgegen, da es im dortigen Fall um einen Einzelfall und (anders als hier) nicht um eine Ausweisverlängerung vor Ort, sondern um einen schriftlichen Ausführungsbescheid im Anschluss an einen Prozessvergleich ging.
4. Die Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit) wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Behörde nach Eintreten der Änderung der Verhältnisse (hier: Erreichen des 16. Lebensjahres einer an Diabetes erkrankten Jugendlichen) noch eine erhebliche Zeit (hier: etwa 3 Jahre) hat verstreichen lassen, bevor sie die Entziehung tatsächlich vorgenommen hat. Denn § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 verpflichtet die Behörden auch noch lange Zeit nach Änderung der wesentlichen Verhältnisse zur Aufhebung des begünstigenden Bescheides.
5. Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung, der die Wiederherstellung gesetzmäßiger Zustände und die Gleichbehandlung aller Antragsteller gebietet, ist eine Verwirkung des Rechts der Behörde, eine rechtswidrig gewordene Feststellung aufzuheben, allenfalls in engen Ausnahmefällen anzunehmen - zB dann, wenn sie etwa erkennbar auf das Verstreichen einer Phase der Heilungsbewährung Bezug nimmt und darauf hinweist, daraus auch in Zukunft keine Folgerungen mehr ziehen zu wollen (vgl BSG vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/15 R = SozR 4-1300 § 48 Nr 31).
6. Ist das genaue Zugangsdatum eines Bescheids über die Entziehung eines Merkzeichens nicht bekannt, kann mangels anderweitiger Anhaltspunkte unter Zugrundelegung der Bekanntgabefiktion in § 37 Abs 2 S 1 SGB 10 von einer Bekanntgabe am dritten Tage nach Ausstellung des Bescheids ausgegangen werden.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.06.2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung bzw. die Feststellung des Nachteilsausgleichs Hilflosigkeit (H).
Die am 00.00.1997 geborene Klägerin leidet seit dem Kindesalter unter einem Diabetes mellitus Typ I, erstdiagnostiziert im Oktober 2007. Inzwischen ist sie Studentin, wohnt in einem eigenen Haushalt und fährt PKW.
Im Kindesalter bestand nach ärztlicher Feststellung eine besonders schwierig einzustellende Stoffwechselerkrankung, bei der im Wechsel ständig Hypoglykämien und Hyperglykämien auftreten konnten und eine ständige Begleitung zur Hilfestellung bei Notfällen erforderlich war (Ärztliche Bescheinigung des Kinderzentrums der Krankenanstalten H vom 17.10.2007).
Daraufhin stellte der Kreis Gütersloh, wo die Klägerin damals lebte, mit Bescheid vom 04.02.2008 den Grad der Behinderung (GdB) mit 50 sowie ferner fest, die Klägerin erfülle die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H; in den Gründen des Bescheides wurde ausgeführt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen würden unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres angenommen und mit dem im Schwerbehindertenausweis einzutragenden Merkzeichen könne sie nachweisen, dass sie hilflos sei. Zum Ausweisinhalt bzw. dessen Gültigkeitszeitraum hieß es ferner, die Gültigkeit sei vom Monat der Ausstellung an bis zum 28.02.2013 befristet. Kurz vor Ablauf dieser Frist werde von Amts wegen geprüft, ob sich die maßgebenden Voraussetzungen geändert hätten. Zu den weiteren Einzelheiten dieses Bescheides wird auf Blatt 10 f. der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
In der Folgezeit unterblieb eine Nachprüfung, allerdings wurde der Ausweis im März 2013 von der Gemeinde Steinhagen (Kreis Gütersloh) bis Februar 2018 und im Februar 2018 von der Bekl...