Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Kaunas als Beitragszeit
Orientierungssatz
1. Zur Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit ist neben der Aufnahme der Arbeit aus eigenem Willensentschluss auch die Gewährung eines Entgelts erforderlich, das nach Art und Höhe eine versicherungspflichtige Beschäftigung begründen kann.
2. Hat der im Ghetto Beschäftigte kein Bargeld, sondern lediglich Essen, Naturalien und Lebensmittelcoupons erhalten, so erfüllen die gewährten Leistungen nur dann den Begriff der Entgeltlichkeit, wenn sie nach dem vorbestimmten Maß zur beliebigen Verfügung geeignet waren, d. h. über den unmittelbaren eigenen Bedarf hinaus gegangen sind. Bestehen für eine Mitversorgung Dritter keine Anhaltspunkte, ist Entgeltlichkeit zu verneinen.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.11.2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten im Ghetto Kaunas, Reichskommissariat Ostland (RKO) in der Zeit von August 1941 bis September 1943.
Der am 00.00.1930 in Kaunas, Litauen, geborene jüdische Kläger ist jüdischen Glaubens und lebt seit November 1945 in Palästina bzw. Israel. Von Geburt an war er zunächst litauischer Staatsangehöriger, später nahm er die israelische Staatsangehörigkeit an. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus gem. § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt.
In dem seinerzeitigen Entschädigungsverfahren gab der Kläger im Antrag auf den Ersatz von Schaden an Freiheit vom 08.03.1950 seinen Aufenthalt im Ghetto Kaunas für die Zeit vom 15.07.1941 bis 12.07.1944 an. Anschließend sei er bis zum 24.04.1945 in das Konzentrationslager Kaufering verbracht und schließlich im Mai 1945 in der Nähe von Bad Tölz befreit worden. In Lazaretten in Bad Tölz und dann in Geretsried habe er stärkende Behandlung bekommen und sei, sobald die Transportfähigkeit herbeigeführt worden sei, mit seinem Vater nach Italien und von dort aus zusammen mit seiner Mutter nach Israel ausgewandert.
Das Verfolgungsschicksal des Klägers beschrieb auch der Zeuge J L, geb. am 00.06.1930 in seiner eidesstattlichen Erklärung vom 09.01.1966: Er (der Zeuge) sei mit dem Kläger während der ganzen Verfolgungszeit im engsten Kontakt gewesen. Im Ghetto Kaunas hätten sie ganz nahe voneinander gewohnt, der Kläger auf der C-straße 00. Sie hätten auch in derselben Garage und denselben Werkstätten in einem großen Haus, der Kläger in der (dortigen) Holzdrechselei gearbeitet. Außer diesen Arbeiten (in den Werkstätten) hätten sie auch eine Reihe anderer Zwangsarbeiten verrichten müssen, wie z. B. verschiedene Erdarbeiten auf dem Flugplatz. Der Kläger habe auch in der Garage schwere Lasten tragen müssen, und in der Holzdrechselei habe er an der Maschine schwere Arbeit in gebückter Haltung stundenlang verrichten müssen. Alle diese Arbeiten hätten selbst die Kräfte eines gut genährten Kindes überstiegen, sie (der Kläger und der Zeuge) seien im Ghetto aber von ihrem 11. bis zum 14. Lebensjahr gewesen. In den letzten zwei Jahren der Ghettohaft hätten sie gehungert und sie hätten nur vollkommen zugrundegerichtete Kleidung gehabt und furchtbar unter der Kälte gelitten.
Ähnlich schilderte auch der Kläger in seiner eidlichen Erklärung vom 27.04.1966 die Gegebenheiten während seines Ghettoaufenthaltes: "Schon im Ghetto wurde ich zu schwerer Zwangsarbeit gezwungen und auch nachts wurde ich zur Arbeit, insbesondere zu Lasten tragen angehalten. Ich litt unter Hunger, wohnte (in) unhygienischen Wohnungsbedingungen, litt schwer unter der Kälte und der Feuchtigkeit. Oft war ich erkältet mit Fieber und litt an Halsschmerzen. An eine ärztliche Behandlung war nicht zu denken. Ich wurde auch oft geschlagen und mit Drohungen zur Eile bei der Arbeit angetrieben. Schon im Ghetto war ich zu Haut und Bein abgemagert, litt an Bauchschmerzen und Rückenschmerzen, oft an Brechreiz und ständig an Kopfschwindel und Kopfschmerzen ...". Eine konkrete Arbeitstätigkeit im Ghetto, insbesondere in den Ghettowerkstätten, erwähnte er in dieser Erklärung nicht. Auch im Antrag "Schaden an Körper und Gesundheit" vom 27.04.1966 wurde eine entsprechende Tätigkeit des Klägers im Ghetto nicht beschrieben.
Am 09.12.2002 stellte der Kläger Antrag auf Gewährung von Altersrente aufgrund von Ghettobeitragszeiten. Im Kurzantrag, unterzeichnet am 25.11.2002, gab er zum Stichwort "Arbeitsplätze" 1. Garage im Rahmen der großen Werkstätten in L-Straße und 2. Holzdreher in denselben Werkstätten an. Diese Angaben ergänzte er im Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG): Er habe im Ghetto Kaunas von 08/1941 bis 09/1943 innerhalb des Ghettos in der Werkstatt in der L-Straße 00 gearbeitet. Hierbei sei er nicht bewacht wo...