Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Rowno als Beitragszeit

 

Orientierungssatz

1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit nach § 2 Abs. 1 ZRBG setzt u. a. voraus, dass die im Ghetto gegen Entgelt ausgeübte Beschäftigung durch eigenen Willensentschluss zustande gekommen ist. Die Gewährung freien Unterhalts hat keinen Entgeltcharakter.

2. Nur ein Erhalt von Lebensmitteln, welcher über den eigenen Bedarf hinausgeht und zur beliebigen Verfügung steht, erfüllt den Begriff der Entgeltlichkeit.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.08.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch in der Berufungsinstanz nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt als Rechtsnachfolger seines Vaters von der Beklagten die Gewährung einer Altersrente. Streitig ist dabei insbesondere, ob sog. Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu berücksichtigen sind.

Der Kläger ist der Sohn von J M und dessen Erbe. Der Vater des Klägers war am 00.00.1919 in Rowno (Polen) als polnischer Staatangehöriger geboren. Er starb am 00.07.2007. Er war jüdischen Glaubens, besaß zuletzt die israelische Staatsangehörigkeit und lebte seit Juli 1957 in Israel. Er war als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und erhielt wegen Freiheitsentziehung (§ 43 BEG) von November 1941 bis August 1942 eine Beihilfe (Bescheid vom 26.03.1968).

Im Entschädigungsverfahren erklärte der Vater des Klägers am 04.01.1968:

"Im November 1941 wurde das Ghetto Rowno errichtet und wurde ich in diesem Ghetto eingesperrt. Wir lebten von der Umwelt abgesondert, leisteten schwere Zwangsarbeit und waren in ständigem Terror vor Aktionen. August 1942 gelang es mir zu flüchten und lebte bei Bauern versteckt ..."

Die Zeugen N P und N1 H bestätigten am 04.01.1968 die Angaben des Vaters des Klägers.

Gegenüber der Jewish Claims Conference (JCC) - Art. 2-Fonds - gab der Vater des Klägers 1993 an, er sei von November 1941 bis August 1942 im Ghetto Rowno gewesen. Er führte weiter aus:

"Ich schlief in einer Baracke auf Pritschen. Von der Umwelt war ich abgesondert. Ich leistete schwere Zwangsarbeiten, denn jeden Tag wurden solche befohlen. Das Essen war völlig ungenügend und ich litt ständig an Hunger. Sehr schwer war es, den Winter zu überstehen. Eine große Angst hatte ich vor den Aktionen, welche viele jüdische Opfer erforderten. Im August 1942 gelang es mir zu flüchten und mich bei Bauern ... zu verstecken ..." Im August 1944 habe er die Befreiung erlebt.

Er beantragte am 04.11.2002 die Gewährung einer Regelaltersrente aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG. Er gab dabei an, nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört zu haben. Er sei verwitwet. Er erklärte am 15.10.2003 weiter, er habe von Juli 1941 bis März 1942 während seines Aufenthaltes im Ghetto von Rowno außerhalb des Ghettos in einem Pferdestall Pferde gepflegt und Reinigungsarbeiten verrichtet. Er habe acht bis zehn Stunden täglich gearbeitet. Die Arbeit sei durch eigene Bemühungen freiwillig zustande gekommen. Bekommen habe er dafür zusätzliche Lebensmittel, keinen Barlohn und keine Sachbezüge. Die Höhe des Entgelts sei nicht erinnerlich. Er sei auf dem Weg von und zur Arbeit von jüdischer Polizei bewacht worden.

Die Beklagte zog die Entschädigungsvorgänge der JCC - Art. 2-Fonds - und die Entschädigungsakte der Bezirksregierung Düsseldorf - Dezernat 10 (Wiedergutmachung) - mit dem Aktenzeichen 10. Art. V 000 bei. Nach Auswertung dieser Unterlagen lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Vaters des Klägers mit Bescheid vom 12.05.2004 ab. Zur Begründung führte sie aus, es sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Vater des Klägers eine aus eigenem Entschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt im Ghetto Rowno ausgeübt habe. Zwangsarbeiten würden vom ZRBG nicht erfasst.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der am 24.05.2004 bei der Beklagten eingegangene Widerspruch des Vaters des Klägers. Zur Begründung legte er noch eine eigene schriftliche Erklärung vom 13.06.2004 über die Umstände seines Aufenthalts im Ghetto vor:

" Im Herbst 1941 wurde in Rowno ein Ghetto errichtet und ich wurde in dieses eingewiesen. Die Lage im Ghetto war sehr schwer, es herrschte großer Hunger. Ich suchte Arbeit, um mich ernähren zu können und nicht den antijüdischen "Aktionen" zum Opfer zu fallen. Mit Hilfe des Judenrates konnte ich eine Ghettotätigkeit anfangen. Mit Pferdewagen brachte ich aus dem Wald Holzstämme an die angegebenen Plätze, führte danach die Pferde in den Stall, gab ihnen ihr Futter und reinigte sie. Es war eine schwere Arbeit, aber im Ghetto war ich froh, diese Arbeit gefunden zu haben. Mein Aufenthalt im Ghetto war ein Zwangsaufenthalt, aber meine Tätigkeit im Ghetto Rowno habe ich aus freiem Willen ausgeübt...

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