Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersrente. Ghettobeitragszeit. Auslandswohnsitz. Zwangsarbeit. Freiwillige Aufnahme der Arbeit. Freiwillige Ausübung der Arbeit. Eigener Willensentschluss. Beschäftigung gegen Entgelt. Sachbezüge

 

Leitsatz (redaktionell)

Voraussetzung für die Anerkennung von Ghettobeitragszeiten ist, dass die ausgeübte Arbeit freiwillig aufgenommen und freiwillig ausgeübt wurde.

 

Orientierungssatz

1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit setzt u. a. voraus, dass die im Ghetto gegen Entgelt ausgeübte Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist.

2. Die zur Anerkennung erforderlichen Tatsachen müssen glaubhaft gemacht werden; d. h. es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Hierbei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich. Die Nichteinhaltung etwaiger tariflicher Bestimmungen durch die NS-Gewaltherrscher spricht gegen eine freiwillige und entgeltliche Beschäftigung.

3. Das Ghetto Zbaraz lag im damals so genannten Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, in dem die Reichsversicherungsgesetze für Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, nicht galten.

 

Normenkette

SGB VI §§ 35, 50 Abs. 1 Nr. 1, § 51 Abs. 1, 4, § 250 Abs. 1, §§ 55, 247 Abs. 3 S. 1; ZRBG § 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1; FRG §§ 15-16; WGSVG § 12; SGB I § 30; SGG § 54 Abs. 2 S. 1

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.05.2007 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin eine Altersrente zu gewähren hat. Umstritten ist insbesondere, ob die Zeit von Juli 1941 bis Oktober 1942 als Ghettobeitragszeit zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigen ist.

Die Klägerin ist am 00.00.1919 in Zbaraz (andere Schreibweise: Sbarasch, damals Polen/heute Ukraine) als polnische Staatsangehörige geboren. Sie ist jüdischen Glaubens, lebt seit März 1950 in Israel und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit. Sie ist als Verfolgte des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und erhielt für Schaden an Freiheit eine Entschädigung für den Zeitraum vom 01.08.1941 bis 05.03.1944 (Feststellungsbescheid C vom 09.01.1958).

In ihrem Entschädigungsverfahren erklärte die Klägerin am 14.06.1955, Anfang August 1941 sei sie von deutschen Sicherheitsorganen aus der Wohnung gewiesen und unter Zurücklassung aller Habe in das in Zbaraz errichtete Ghetto verwiesen worden. Das Ghetto sei abgeschlossen, befestigt gewesen und habe unter deutscher Bewachung gestanden, assistiert von ukrainischen Polizisten, unter dem Befehl des Gebietskommandanten E. Flucht sei unter Todesstrafe verboten gewesen. Gestapochef (des ganzen Kreises Tarnopol) sei ein Offizier N gewesen. Vorsitzender des Judenrates sei I H gewesen. Mitglied des Judenrates sei ein Rechtsanwalt I gewesen. Sie habe Zwangsarbeit - unter Tragen des Judenzeichens geleistet, und zwar Reinigungs- Aufräumarbeiten, hauptsächlich in den Polizeibehörden und in der Ortkommandantur. Nachdem ihr Ehemann K M vom genannten Ghetto im April 1942 nach Tarnopol-Lager verbracht worden sei, sei sie dortselbst mit ihrer Tochter G zurückgeblieben, und zwar bis Juli 1943. Anlässlich der Liquidierung des genannten Ghettos im Juli 1943 sei sie mit ihrer genannten Tochter entflohen. Die Zeuginnen M (M) S und S S1 bestätigten am 03.05.1954 den Aufenthalt der Klägerin im Ghetto Zbaraz im Zeitraum von August 1941 bis April 1942.

Am 26.08.2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Die Beklagte zog von der Jewish Claims Conference (JCC) - Art. 2-Fonds - die dort vorliegenden Unterlagen betreffend die Klägerin bei. Gegenüber der JCC gab die Klägerin an, von 1941 bis 1942 im Ghetto Zbaraz gewesen zu sein und sich von 1942 bis März 1944 in einem Bunker unter dem Stall des Hauses einer ermordeten jüdischen Familie aufgehalten zu haben. Angaben zu verrichteten Arbeiten machte die Klägerin gegenüber der JCC nicht. In zwei Fragebögen gab die Klägerin jeweils am 05.11.2003 im Verwaltungsverfahren an, im Ghetto Sbarasch in Polen von Sommer 1941 bis Winter 1942 beschäftigt gewesen zu sein und sowohl innerhalb als auch außerhalb in der Nähe des Ghettos gearbeitet zu haben. Sie habe Putz- und Straßenreinigungsarbeiten ausgeführt. Sie habe täglich 10-12 Stunden gearbeitet. Anstatt monatlichen Geldes habe sie täglich außer der regulären Verpflegung zusätzlich eine Extraportion an Essen erhalten. Barlohn habe sie nicht bekommen. Sie habe keine Sachbezüge und außer Essen nichts erhalten. Unbekannt sei, ob Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden seien. Der Judenrat des Ghettos habe sie zur Arbeit eingeteilt. Es handelt sich hierbei um die Antwort der Klägerin zur Frage 5...

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