Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. Versicherungsfall vor Stichtagsregelung. Einleitung des Verwaltungsverfahrens vor In-Kraft-Treten der Rückwirkungsklausel. Anwartschaft. chronische obstruktive Bronchitis. Bergmann
Leitsatz (redaktionell)
1. Anspruch auf Anerkennung wie eine Berufskrankheit besteht auch nach Aufnahme der Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten-Verordnung, wenn zuvor bereits Entscheidungsreife bestand. Dann ist später nach dem im Zeitpunkt der Entscheidungsreife geltenden Recht über den Anspruch zu entscheiden.
2. § 6 Abs. 2 BKV ist einschränkend dahin gehend auszulegen, dass er für die Entschädigung einer Quasi-Berufskrankheit nicht gilt.
3. Es bleibt offen, ob Entscheidungsreife vor dem 01.12.1997 bestanden haben muss, wenn bereits ein Verwaltungsverfahren eingeleitet war und sich – jedenfalls im Nachhinein – ergibt, dass der Anspruch bereits vor Aufnahme der Berufskrankheit in die Berufskrankheitenliste bestanden hat.
4. Für den Nachweis, dass eine chronischen Bronchitis obstruktiv ist i.S.d. Berufkrankheit Nr. 4111 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung genügt es, dass die zur Verfügung stehenden Hilfstatsachen (wenn auch nicht einzeln, so doch) in der Zusammenschau mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit die Chronizität der Obstruktion belegen.
Orientierungssatz
Zur Anerkennung einer chronischen obstruktiven Bronchitis - bei Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale iS von BKV Anl Nr 4111 - als Quasi-Berufskrankheit gem § 9 Abs 2 iVm § 9 Abs 1 S 2 SGB 7, wenn der Versicherungsfall zwar vor dem Stichtag des § 6 Abs 2 (bis zum 30.9.2002: Abs 1) BKV eingetreten, aber das Verwaltungsverfahren bereits vor dessen In-Kraft-Treten zum 1.1.1997 eingeleitet worden war.
Normenkette
SGB VII § 9 Abs. 2, 1 S. 2; BKV § 6 Abs. 2 Fassung: 2002-09-05, Abs. 1 Fassung: 31.10.1997; BKV § 6 Anl. 1 Nr. 4111; SGB VII § 103 Abs. 1, § 212; GG Art. 3 Abs. 1; SGG § 88 Abs. 1 S. 1
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.10.1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis und/oder eines Emphysems als Berufskrankheit (BK).
Der im Juli 1944 geborene Kläger war von Januar 1962 bis Juli 1994 - zuletzt als Hauer - im deutschen Steinkohlenbergbau beschäftigt.
Der Kläger war arbeitsunfähig krank im Februar/März 1971 und im September 1981 wegen "Bronchitis" und vom 18.3. bis 17.4.1988 wegen "chronischer Atemwegserkrankung". Im Mai 1989 gab er bei einer Untersuchung durch den Sozialmedizinischen Dienst (SMD) der (früheren) Bundesknappschaft an, er leide "in letzter Zeit" unter Luftnot bei starker körperlicher Anstrengung und Husten mit grauem Auswurf. Internisten Dres. I und N/SMD C befürworteten eine Kurmaßnahme, bei der auch eine Lungenfunktionsprüfung durchgeführt werden sollte (Gutachten vom 12.6.1989). Bei der anschließenden Kur in Bad T (25.10. bis 21.11.1989) ergab die Spirometrie eine deutliche Obstruktion. Bis zu seiner Abkehr war der Kläger in der Folgezeit arbeitsunfähig krank vom 15.11. bis 10.12.1990 wegen "Lumboischialgie, chronische Atemwegsobstruktion", vom 8. bis 19.4.1991 wegen "chronischer Atemwegsobstruktion", vom 4.11. bis 6.12.1991 wegen "Lumboischialgie, chronische Atemwegsobstruktion", vom 24.9. bis 8.10.1993 wegen "chronischer Atemwegsobstruktion".
Am 9.9.1997 erstattete Arzt für Lungenheilkunde Dr. L aus B "ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit"; beim Kläger liege eine BK Nr 4111 vor. Bei der (Erst-)Untersuchung am 29.8.1997 seien eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung mit Emphysem und eine leichte Mischstaubsilikose festgestellt worden. Anamnestisch habe der Kläger angegeben, er leide seit einem Jahr unter Husten und Auswurf. Therapeutisch sei eine kurzfristige Cortokoid-Therapie eingeleitet worden (beigefügter Bericht an die behandelnde Ärztin Dr. M vom 2.9.1997). Der Kläger ergänzte am 24.10.1997, er habe erstmals vor 7 bis 8 Jahren unter Atembeschwerden in Form von Husten, Auswurf und Luftnot gelitten. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten ermittelte eine berufliche Feinstaubbelastung von 105 Feinstaubjahren (Stellungnahme vom 29.10.1997).
Am 3.11.1997 richtete die Beklagte schriftliche Anfragen an die behandelnden Ärzte und die (damalige) Bundesknappschaft. Behandelnde Ärztin Dr. M berichtete am 14.11.1997 von einer Behandlung von April 1995 bis Oktober 1997. Diagnosen: Chronisch obstruktiver Atemwegsinfekt mit Emphysem, Silikose. Die Bundesknappschaft übermittelte am 17.11.1997 Unterlagen zu Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, Dr. L übersandte einen weiteren Bericht an Dr. M vom 17.11.1997: Chronische Atemwegserkrankung mit Lungenemphysem, leichte Mischstaubsilikose. Anfragen ...