Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Unionsbürger bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Anwendbarkeit bei fehlendem materiellen Aufenthaltsrecht. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II ist nicht verfassungswidrig.

2. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erfasst auch die Personen, die über kein materielles Aufenthaltsrecht (mehr) verfügen, sich aber bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde nach § 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) noch in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten dürfen.

3. In Ausübung seines Gestaltungsspielraums hat der Gesetzgeber ausreichende Regelungen bezüglich der Gewährung von Leistungen zur Existenzsicherung getroffen.

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 02.09.2015 aufgehoben. Der Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab dem 01.07.2015 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren, wird abgelehnt.

2. Die Beschwerde des Antragstellers wird zurückgewiesen.

3. Außergerichtliche Kosten des Antragstellers sind weder im Antrags- noch Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorläufig die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Antragsteller ist kolumbianischer Staatsangehöriger. Er reiste gemeinsam mit seinem spanischen Ehemann J E B T (B.T.) im Mai 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) wurde ihm am 14.05.2013 für 5 Jahre erteilt. Erstmals zeigte B.T. dem Antragsgegner am 13.01.2014 seine Arbeitsunfähigkeit an. In den folgenden Monaten legte er ebenfalls entsprechende Bescheinigungen seines behandelnden Arztes vor. Auch im Dezember 2014 konnte B.T. Meldetermine des Antragsgegners aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen. Der behandelnde Internist Dr. B bescheinigte ihm am 08.12.2014 “bis auf weiteres„ eine Wegeunfähigkeit, die der Internist Dr. W auch für die Monate Mai bis Juli 2015 bestätigte. Nachweise über eine (ab Einreise oder später erfolgte) Arbeitsuche von B.T. liegen nicht vor.

Der Antragsgegner bewilligte der Bedarfsgemeinschaft antragsgemäß durchgehend Leistungen vom 01.07.2013 bis zum 30.06.2015, zuletzt in Höhe von 1.060,00 € monatlich. Den Fortzahlungsantrag vom 19.05.2015 lehnte er mit (mit dem Widerspruch angefochtenem) Bescheid vom 18.06.2015 ab, weil der Antragsteller gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Sein Ehemann sei zwar EU-Bürger, sei aber bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen.

Auf den vom Antragsteller am 23.06.2015 beim Sozialgericht Mainz (SG) gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das SG durch Beschluss vom 02.09.2015 den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 545,00 € monatlich für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 30.11.2015 zu gewähren. Der Antragsteller habe sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er sei insbesondere nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Nr. 3 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Zudem sei er aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht nach Nr. 2 dieser Vorschrift ausgeschlossen. Es sei möglich, dass er bereits tatbestandlich nicht unter diese Ausschlussregelung falle. Vieles spreche dafür, dass das Aufenthaltsrecht des Ehemannes nach § 2 Abs. 2 Nr.1a FreizügG/EU in Folge des über sechs Monate dauernden Aufenthalts und nicht erbrachter Nachweise über eine Erfolg versprechende Arbeitsuche weggefallen sein könnte, der Ehemann und der Antragsteller also nur noch über ein formelles Aufenthaltsrecht aus der Freizügigkeitsvermutung verfügen würden. Dies würde bedeuten, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nach dem insoweit klaren Wortlaut der Regelung nicht zum Zug käme und dem Antragsteller ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II zustünde. Der gegenteiligen Auffassung (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 - L 1 AS 2338715 ER-B), wonach der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch bei ausländischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen greife, die über kein (materielles) Aufenthaltsrecht verfügten, könne im Hinblick auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut, der die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten abstecke, nicht gefolgt werden.

Selbst wenn der Ehemann des Antragsteller weiterhin über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr.1a FreizügG/EU verfügen sollte, so dass der Antragsteller unter § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fallen würde, dürfte diese Ausschlussregelung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zur Anwendung kommen. Nach Auffassung der Kammer sei sie verfassungswidrig und ...

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