Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Einlegung der Berufung beim unzuständigen Gericht. Versäumung der Berufungsfrist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Weiterleitung durch das unzuständige Gericht. Zurechnung von Rechtsanwaltsverschulden. fehlerhafte Adressierung des Schriftsatzes. eigene Überprüfungspflicht des Rechtsanwalts

 

Orientierungssatz

1. Wird ein Schriftsatz fehlerhaft an ein unzuständiges Gericht adressiert, kommt eine Wiedereinsetzung wegen nicht fristgerechter Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht nur in Betracht, wenn der fristgebundene Schriftsatz beim unzuständigen Gericht so zeitig eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann (vgl BFH vom 18.8.2014 - III B 16/14 = BFH/NV 2015, 42).

2. Die Überprüfung der Adressierung einer Rechtsmittelschrift gehört zu den Aufgaben des Rechtsanwalts, welche er nicht auf Angestellte delegieren kann (vgl BSG vom 15.08.2002 - B 3 P 14/02 B).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 07.10.2015; Aktenzeichen B 9 SB 47/15 B)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 15.12.2014 wird als unzulässig verworfen.

2. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte berechtigt war, den bei dem Kläger festgestellten Grad der Behinderung (GdB) herabzusetzen.

Der Beklagte hatte bei dem 1967 geborenen Kläger zuletzt mit Bescheid vom 22.05.2009 einen GdB von 50 unter Berücksichtigung einer Pyoderma gangraenosum der Kopfhaut bei Colitis ulcerosa festgestellt. Im März 2010 leitete er von Amts wegen eine Überprüfung des GdB ein. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und Anhörung des Klägers hob er mit Bescheid vom 11.02.2011 seine frühere Entscheidung auf, da ein GdB von mindestens 20 nicht mehr feststellbar sei. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein.

Mit einem weiteren Bescheid vom 01.07.2011 lehnte der Beklagte einen Überprüfungsantrag des Klägers nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) betreffend den Bescheid vom 22.05.2009 ab. In der Rechtsbehelfsbelehrung wies er darauf hin, dass dieser Bescheid gemäß § 86 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens werde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11.10.2011 wies er schließlich den Widerspruch betreffend beide Bescheide als unbegründet zurück.

Im Rahmen des daraufhin eingeleiteten Klageverfahrens hat der Beklagte, nachdem das Sozialgericht (SG) Mainz von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufgeklärt hatte, ein Teil-Anerkenntnis dahingehend abgegeben, dass unter Berücksichtigung der Beeinträchtigungen Darmerkrankung sowie Hauterkrankung der Kopfhaut ein Gesamt-GdB von 20 festzustellen sei. Im Übrigen erklärte er sich bereit, auf Antrag die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu 1/5 zu tragen. Der Kläger nahm das Teil-Anerkenntnis nicht an und hielt die Klage aufrecht.

Mit Urteil vom 15.12.2014 hat das SG Mainz den Bescheid vom 11.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2011 entsprechend dem Teil-Anerkenntnis vom 17.04.2013 dahingehend aufgehoben, dass ein Gesamt-GdB von 20 festgestellt werde und die darüber hinausgehende Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, es sei eine wesentliche Änderung, die eine Herabsetzung des Gesamt-GdB von 50 auf 20 entsprechend dem Teil-Anerkenntnis vom 17.04.2013 rechtfertige, eingetreten. Insofern hat sich das SG auf das im Klageverfahren eingeholte internistische Gutachten des Prof. Dr. G vom 02.10.2012 gestützt.

Das Urteil ist dem Kläger über die Kanzlei S seiner Prozessbevollmächtigten am 22.12.2014 zugestellt worden. Der Fristablauf am 22.01.2015 wurde im Fristenkalender der Rechtsanwaltskanzlei ordnungsgemäß notiert. Da die von dem Kläger bevollmächtigte Rechtsanwältin Frau M P am Tag des Fristablaufs erkrankt war, wurde der Berufungsschriftsatz von der Mitarbeiterin der Kanzlei, Frau I H , einer ausgebildeten Rechtsanwaltsfachangestellten, gefertigt.

Aufgrund eines Computerfehlers datierte der von Frau H gefertigte Berufungsschriftsatz vom 03.12.2014. Zudem adressierte Frau H den Schriftsatz an das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Zweigert-Straße 54 in 45130 Essen. Auf dem Schriftsatz wurde festgehalten: “VORAB PER TELEFAX: 02 01 - 79 92-3 02„. Hierbei handelt es sich um die Faxnummer des LSG Nordrhein-Westfalen.

Am 22.01.2015 um 15:41 Uhr übersandte Frau H der Rechtsanwältin P per Email einen Entwurf der Berufungseinlegung. Um 16.11 Uhr antwortete Frau P von ihrem BlackBerry: “Super! Ist noch jemand da zum Unterschreiben? Dann bitte faxen. Danke!„. Der Berufungsschriftsatz wurde sodann von Herrn Rechtsanwalt S unterzeichnet und von Frau H an die Fax-Nr. 02 01 - 79 92- 3 02 - wie auf dem Berufungsschriftsatz vermerkt - gefaxt. Ausweislich des Sendeberichts war dies um 16.17 Uhr der Fall.

Um 16.39 Uhr wandte sich Frau H no...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge