Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Kostenerstattungsanspruch für eine brustvergrößernde Operation bei Transsexualität. Annäherung des Erscheinungsbilds an das weibliche Geschlecht. Inaugenscheinnahme durch die Tatsachengerichte. Verfassungsmäßigkeit. Messung des Brustumfangs. Körbchengröße

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einer Mann-zu-Frau-Transsexuellen besteht ein Anspruch auf eine operative Brustvergrößerung nur, wenn die bisherigen Maßnahmen unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls nicht zu einer Annäherung des Erscheinungsbilds an das weibliche Geschlecht geführt haben. Es ist nicht entscheidend, ob der Brustansatz bereits die Körbchengröße A nach DIN EN 13402 ausfüllt (Klarstellung zu BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R = BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, B 1 KR 9/12 R und B 1 KR 11/12 R).

2. Ob der Brustansatz aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts hinreichend angenähert ist, haben die Tatsachengerichte durch Inaugenscheinnahme unter Berücksichtigung des Gesamterscheinungsbildes der Betroffenen festzustellen.

 

Orientierungssatz

Das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 GG verbietet es, transsexuellen Versicherten einen umfassenderen leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen Operationen zu eröffnen, der nicht-transsexuellen Versicherten von vornherein versperrt ist (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R aaO).

 

Normenkette

SGB V §§ 27, 13 Abs. 3

 

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 7.5.2015 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen die beklagte Krankenkasse einen Anspruch auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Brustvergrößerungsoperation in Höhe von 5.015,28 € hat.

Bei der 1968 geborenen Klägerin besteht ein Mann-zu-Frau-Transsexualismus. Im Dezember 2011 war eine genitalangleichende Operation durchgeführt worden. Unter Vorlage eines Attests der Diplom-Psychologin H beantragte die Klägerin im März 2013 eine Vergrößerung der Brüste auf mindestens Büstenhalter-Körbchengröße A. Die bisherige Hormonbehandlung könne nicht intensiviert werden und habe nur zu einer unzureichenden Brustgröße geführt. Der von der Beklagten beteiligte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK, Gutachten des Facharztes für Psychiatrie B vom 12.4.2013 und 13.5.2013) kam zu dem Ergebnis, eine medizinische Indikation für brustvergrößernde Maßnahmen liege nicht vor. Aus der von der Klägerin vorgelegten Fotodokumentation ergebe sich, dass eine relevante Asymmetrie der Brüste nicht bestehe; die Brüste zeigten eine weibliche Form, die Brustgröße liege im unteren Normbereich einer weiblichen Brust; bei schlankem Körperbau ergebe sich ein ästhetisches Erscheinungsbild. Eine Entstellung liege nicht vor; es bestehe keine körperliche Auffälligkeit von so beachtlicher Erheblichkeit, dass dadurch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gefährdet wäre. Der vorhandene Brustansatz erreiche die für konfektionierte Damenoberbekleidung vorgesehene Größe A nach DIN EN 13402-1. Unter Berufung auf die Beurteilung des MDK lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 18.4.2013, Widerspruchsbescheid vom 13.6.2013).

Hiergegen hat die Klägerin am 22.6.2013 Klage erhoben. Auf Anfrage des Sozialgerichts hat die Klägerin unter Hinweis auf einschlägige Internetausdrucke (Blatt 37 ff. der Gerichtsakte) ausgeführt, Körbchengröße A nach DIN EN 13402 sei erreicht, wenn die Differenz zwischen Brustumfang und Unterbrustumfang 13 cm (lt. Wikipedia, Stichwort Büstenhalter) bzw. 12 bis 14 cm (lt. “buestenhalter.com„) betrage. Im August 2013 hat die Klägerin die Brustvergrößerungsoperation in der M Klinik für Plastische Chirurgie auf eigene Kosten durchführen lassen und für ärztliche Leistungen insgesamt 4.900,28 € sowie weitere 115,00 € für eine im Zusammenhang mit der operativen Maßnahme abgeschlossene Versicherung an die ausführende Klinik gezahlt (insgesamt 5.015,28 €). Die Klägerin hat Fotos ihrer Brust im Zustand vor der Operation vorgelegt (Blatt 30 bis 36 der Gerichtsakte). Die vom Sozialgericht beigezogene Patientenakte der Klinik enthält unter dem Datum 3.6.2011 den Eintrag: “Pat. jetzt 85 A/B -≫ ausführliches Gespräch über BV„, unter dem 2.4.2013 heißt es: “Pat. wünscht BV + will versuchen, die OP von KK bezahlen zu lassen. Benötigt hierfür Fotos + Brustmaße. Umfang submamär 87 cm, über Mamillen: 94 cm„. Unter dem 1.8.2013 ist in der Patientenakte vermerkt: “Brustumfang 87, Brustumfang über Mamillen 94,5„. In der Operationsvorbereitungsdokumentation ist angegeben: “Brustumfang 95/86,5, BH-Größe 90A„ Auf Anfrage des Sozialgerichts hat der behandelnde Klinikarzt Dr. H mitgeteilt, die Eintragung über die Körbchengröße beziehe sich in der Regel auf Angaben der Patientin. Die Brustmessungen seien an der stehenden Patientin entlang der Brustfalte und entlang...

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