Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. immaterieller Nachteil eines minderjährigen Klägers. seelischer Unbill. keine aktive Involvierung in das Gerichtsverfahren. Vertretung durch die Eltern. besondere Belange des Minderjährigen als Verfahrensgegenstand. Belastungen der Eltern. Bemessung der Überlänge. Aktivmonate. richterliche Verfügung. Zeitpunkt der Ausführung. Abwarten auf Eingang eines Originalschriftsatzes. Fehler des Gerichts. freigestellte Stellungnahme anstelle einer Aufforderung zur Stellungnahme

 

Leitsatz (amtlich)

Einen immateriellen Nachteil durch die überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens, der in Geld zu entschädigen ist, kann auch ein minderjähriger Kläger erleiden, der abgesehen von seiner formalen Beteiligtenstellung nicht persönlich in das Verfahren involviert ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Verfahrensgegenstand besondere Belange des minderjährigen Klägers (hier: Kostenübernahme für eine Petö-Therapie) betrifft. Es ist dann auf die gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen und deren Belastungen abzustellen.

 

Orientierungssatz

1. Zum Leitsatz: Abgrenzung zu LSG Neustrelitz vom 27.6.2018 - L 12 SF 43/17 EK AS.

2. Für die gerichtliche Aktivität kommt es maßgeblich nicht auf den Zeitpunkt der richterlichen Verfügung, sondern den der Ausführung dieser Verfügung an (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 26.5.2020 - L 37 SF 150/19 EK AL).

3. Das Gericht kann den Eingang eines Originalschreibens (hier in einem anderen Kalendermonat) abwarten, ohne dass dies zu einem Passivmonat führt.

4. Dem Gericht sind aber Monate als Verzögerungszeit anzulasten, die durch eigene Fehler und deren Korrektur im Verfahrensablauf entstanden sind (hier: Übersendung der Befundberichte statt zur Stellungnahme irrtümlich zur freigestellten Stellungnahme).

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 200 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und der Beklagte jeweils zur Hälfte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 400 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Entschädigung gemäß § 202 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).

Im Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg (S 25 SO 23/15) war zwischen den Beteiligten die Kostenübernahme für eine Petö-Therapie streitig.

Der am ... 2010 geborene - körperlich behinderte - Kläger hatte erstmalig im Oktober 2013 an einer Petö-Therapie teilgenommen, deren Kosten nach Ablehnung durch die Sozialagentur eine Stiftung getragen hatte. Mit Bescheid des Landkreises S. vom 20. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Sozialagentur Sachsen-Anhalt vom 27. Januar 2015 wurde die Übernahme der Kosten i.H.v. insgesamt 1.170 € für eine weitere, vom 3. bis zum 21. März 2014 durchgeführte Petö-Therapie abgelehnt.

Hiergegen erhob der Kläger am 6. Februar 2015 die Ausgangsklage beim SG und beantragte Akteneinsicht. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2015 ergänzte er sein Vorbringen. Die Sozialagentur legte am 20. April 2015 ihre Klageerwiderung nebst Verwaltungsakte vor. Der Kläger nahm mit Schreiben vom 1. Juni 2015, eingegangen am 4. Juni 2015, dazu Stellung und wies auf die noch nicht gewährte Akteneinsicht hin. Das SG verfügte am 5. Juni 2015 die Übersendung dieses Schreibens an die Sozialagentur zur Stellungnahme ohne Fristsetzung sowie die Übersendung der Verwaltungsakte an den Kläger. Dieser nahm vom 19. bis zum 22. Juni 2015 Einsicht in die Verwaltungsakte und legte diese am 25. Juni 2015 dem SG wieder vor. Mit gerichtlichem Schreiben vom 23. September 2015 übersandte das SG das klägerische Schreiben vom 1. Juni 2015 der Sozialagentur zur Stellungnahme. Auf das am 13. November 2015 eingegangene Schreiben der Sozialagentur nahm der Kläger nach gewährter Fristverlängerung mit Schreiben vom 26. Januar 2016, eingegangen am 28. Januar 2016, Stellung. Dieses Schreiben wurde der Kammervorsitzenden am 5. Februar 2016 vorgelegt, die am 22. Februar 2016 die Übersendung an die Sozialagentur zur Stellungnahme binnen 4 Wochen veranlasste. Die Verfügung wurde am 1. März 2016 ausgeführt. Hierzu und auf eine vom Kläger am 20. Oktober 2015 benannte und am 28. Dezember 2015 vorgelegte Entscheidung eines SG nahm die Sozialagentur nach Fristverlängerung mit Schreiben vom 30. März 2016 Stellung. Dieses am selben Tag per Fax und am 1. April 2016 im Original eingegangene und an diesem Tag der Vorsitzenden vorgelegte Schreiben leitete das SG aufgrund der richterlichen Verfügung vom 19. April 2016 unter dem 4. Mai 2016 an den Kläger zur Stellungnahme innerhalb eines Monats weiter. Nach Erinnerung durch das SG mit Schreiben vom 15. Juni 2016 nahm der Kläger am 1. Juli 2016 Stellung. Es folgten Stellungnahmen der Sozialagentur am 8. August 2016, des Klägers am 16. September 2016 und der Sozialagentur am 27. Oktober 2016. Unter dem 1. November 2016 verfügte das SG „SF - ET“ und leitete mit Schreiben vom 2. November 2016 die letzt...

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