Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Klagerücknahme durch einen von mehreren Klägern nach Urteilsverkündung. Klagefrist. Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheids per Telefax. elektronische Übermittlung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. abschließende Entscheidung nach vorläufiger Leistungsbewilligung. Erstattungsforderung. Handlungsfrist. Verwirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Nimmt einer von mehreren Klägern seine Klage nach Verkündung, aber vor Absetzung des Berufungsurteils zurück, ist das Urteil, soweit es ausschließlich ihn betrifft, nicht mehr abzusetzen.
2. Auf die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts per Telefax findet § 37 Abs 2 S 2 SGB X Anwendung, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland elektronisch übermittelt wird, am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben gilt.
3. § 328 SGB III (iVm § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II aF) sieht keine besondere Frist für die endgültige Festsetzung eines Leistungsanspruchs und eine darauf beruhende Erstattungsforderung vor. Der Einwand der Verwirkung gegen eine endgültige Festsetzung und einen Erstattungsanspruch kann nicht erfolgreich geltend gemacht werden, wenn nicht sowohl ein Zeit- als auch ein Umstandsmoment vorliegen.
Tenor
Die Berufung der Klägerin zu 1. wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin zu 1. (im Folgenden: Klägerin) wendet sich im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens gegen die endgültige Festsetzung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Zeit von Mai bis Oktober 2012 und eine daraus resultierende Erstattungsforderung.
Die 1972 geborene Klägerin und ihr 1992 geborener Sohn, der ursprüngliche Kläger zu 2., bezogen als Bedarfsgemeinschaft laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten. Die Klägerin übte daneben eine selbständige Tätigkeit („Promotion“) aus. Für ihren Sohn bezog sie Kindergeld i.H.v. 184 € pro Monat. Er absolvierte ab dem 23. April 2012 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und erhielt dafür ein Taschengeld i.H.v. 150 € und Geldersatzleistungen ebenfalls i.H.v. 150 € pro Monat.
Für die gemeinsam bewohnte 65,11 qm große Wohnung hatte die Klägerin monatlich insgesamt 467,37 € zu zahlen: 291,32 € Grundmiete, 84,94 € Heizkosten, 91,11 € Nebenkosten. Einen 9 qm großen Raum der Wohnung nutzte sie als Arbeitszimmer.
Mit Bescheid vom 26. April 2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin vorläufig Leistungen für Mai bis Oktober 2012 i.H.v. insgesamt 499,58 € pro Monat. Die Vorläufigkeit begründete er damit, dass ihr Einkommen aus selbständiger Tätigkeit nur geschätzt werden könne. Mit Bescheid vom 20. Juni 2012 änderte er die Bewilligung und gewährte der Klägerin und ihrem Sohn vorläufig insgesamt 820,84 € pro Monat (davon 528,32 € für die Klägerin und 292,52 € für ihren Sohn).
Im Mai 2013 legte die Klägerin eine Erklärung zu ihrem tatsächlich erzielten Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in der Zeit von Mai bis Oktober 2012 vor. Ihre Betriebseinnahmen bezifferte sie auf 4.789,58 €, ihre Betriebsausgaben auf 2.664,46 €, den Gewinn auf 2.125,12 €. Als Betriebsausgaben machte sie u.a. Raumkosten (70,23 € pro Monat) und insgesamt 422,70 € Reisekosten geltend. Zu den Reisekosten fand sich in der Anlage zur Erklärung eine detaillierte handschriftliche Auflistung, aus der sich ergab, dass davon insgesamt 370 € auf Verpflegungsmehraufwand entfielen, der je nach Dauer der Ortsabwesenheit mit 6 €, 12 € oder 24 € pro Trag bemessen war.
Im Juli 2013 forderte der Beklagte die Klägerin im Hinblick auf die Leistungen für Mai bis Oktober 2012 auf, ein Fahrtenbuch vorzulegen, dessen Führung ihr aufgegeben worden sei. Im August 2013 rief die Klägerin beim Beklagten an und teilte mit, dass sie kein Fahrtenbuch geführt habe.
Mit zwei Schreiben vom 24. Oktober 2014, die mit weiteren Schreiben vom 28. Oktober 2015 korrigiert wurden, hörte der Beklagte die Klägerin und ihren Sohn wegen einer Überzahlung von Leistungen für die Zeit von Mai bis Oktober 2012 an. Daraufhin teilte die Klägerin im November 2015 telefonisch mit, dass sie einen Anwalt konsultieren wolle.
Mit Bescheid vom 22. Juni 2017, der an die Klägerin adressiert war, setzte der Beklagte die Leistungsbewilligung an sie und ihren Sohn für Mai bis Oktober 2012 auf 558,29 € pro Monat endgültig fest, davon entfielen 393,86 € auf die Klägerin und 164,43 € auf ihren Sohn. Mit gesonderten Bescheiden vom selben Tag forderte er von der Klägerin die Erstattung von 806,76 € und von ihrem Sohn die Erstattung von 768,54 €. Die Zustellung an die Klägerin erfolgte ausweislich der in der Verwaltungsakte des Beklagten enthaltenen Postzustellungsurkunden am 27. Juni 2017, die Zustellung an ihren Sohn, der inzwischen unter einer anderen Anschrift wohnte, am 18. September 2017.
Mit anwaltlichem Telefax-Schreiben vom 16. Oktober 2017 legten die Klägerin und ihr Sohn „Widerspruch“ gegen den „Bescheid vom 22.6.2017 (versandt am 14.9.2017)“ ein. Unter Verweis auf § 41a Abs...