Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 4302. Krankheitsbild. direkte chemisch-irritative oder toxische Rhinopathie. Wie-Berufskrankheit. neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Einwirkungs-Ursachenbeziehung. berufliche Ammoniakbelastung. Rhinopathie/Hyposmie. Pauserin. technische Zeichnerin
Leitsatz (amtlich)
1. Eine direkte chemisch-irritative oder toxische Rhinopathie ist nicht als Krankheitsbild der Nr 4302 der Anl 1 zur BKV feststellbar, da diese BK - anders als die BK 4301 (vgl hierzu Art 1 Nr 9 der Verordnung zur Änderung der BKV vom 22.3.1988, BGBl I, S 400; BR-Drs 33/88 vom 22.1.1988, S 9) - tatbestandlich nur obstruktive Erkrankungen der mittleren und tieferen/unteren Atemwege erfasst (vgl BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 15/06 R = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4302 Nr 1 - juris).
2. Es existieren auch keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine generelle Eignung zu einer Einwirkungs-Ursachenbeziehung zwischen beruflicher Ammoniakbelastung und Entstehung einer Rhinopathie/Hyposmie, die als gesichert iSv § 9 Abs 2 SGB VII zu berücksichtigen wären und mit denen der Verordnungsgeber sich hätte auseinandersetzen bzw eine Anerkennung oder Ablehnung dieser Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit - ggf durch Erweiterung der BK 4302 - hätte prüfen können.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist in den verbundenen Verfahren, ob eine Beeinträchtigung des Geruchssinns (Hyposmie) sowie eine Nasenatmungsbehinderung einschließlich Überempfindlichkeit der Nasenschleimhäute/Nasenschleimhautentzündung (Rhinopathie) weitere Folgen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen - BK 4302) bzw. wie eine BK (Wie-BK) festzustellen sind und Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vom Hundert (vH) zu leisten ist.
Die 1944 geborene Klägerin erlernte von 1961 bis 1963 den Beruf einer technischen Zeichnerin und war bis April 2003 als solche bzw. Pauserin beim VEB M. B., VEB W. B. bzw. bei den Katasterämtern B. und M. tätig.
Am 25. Februar 2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung ihrer o.g. Leiden als Wie-BK. Am 30. Mai 2002 erhielt diese außerdem von der Fachärztin für HNO-Heilkunde Dr. K. die Anzeige über den Verdacht des Bestehens einer BK. Die Klägerin leide unter einer hyperplastischen Rhinitis mit oft zugeschwollener Nase. Während ihrer beruflichen Tätigkeit im Katasteramt M. habe sie mit Lichtpausen gearbeitet und hierbei mehrmals täglich eine 25 %ige Ammoniaklösung eingeatmet. Ferner benannte die Fachärztin für Augenheilkunde W. die Diagnosen Brillenkorrektur, Konjunktivitis und trockene Augen. Ursache hierfür seien Umwelteinflüsse und hormonelle Schwankungen (Bericht vom 20. Oktober 2002).
Der Präventionsdienst der Beklagten führte in seiner Stellungnahme vom 8. Oktober 2002 aus, als Entwickler für das belichtete Pauspapier werde Ammoniak genutzt. Der Entwicklungsprozess finde in der Lichtpausmaschine statt. Der erforderliche Ammoniak entstehe durch Verdampfung von 25 %igem Ammoniakwasser. Das verfahrensbedingt in der Atemluft entstehende Ammoniak könne zu Verätzungen, Reizungen der Atemwege, Lungenödemen, Herzrhythmusstörungen, einer Blutdruckerhöhung oder zu einer erhöhten Infektanfälligkeit führen. Messungen am Arbeitsplatz der Klägerin im Katasteramt B. (1992-1996) lägen nicht vor. Ab 1997 sei sie im Katasteramt M. beschäftigt. Dort hätten Messungen Ammoniakkonzentration zwischen 3,5 und 8,6 ppm ergeben (MAK-Wert: 50 ppm). Für das Umfüllen des Ammoniakwassers stehe eine Atemschutzmaske zur Verfügung. Die Klägerin sei (auch vor 1992) im Sinne der BK 4302 langjährig gegenüber Ammoniak exponiert gewesen.
In ihrer gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 9. Dezember 2002 empfahl Dr. F. mangels der Höhe nach ausreichender Exposition die Ablehnung einer BK 4302. Dem schloss sich die Beklagte mit Bescheid vom 4. Februar 2003 an. Den hiergegen noch im selben Monat erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2003 als unbegründet zurück.
Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) nach Einholung des arbeitsmedizinischen Gutachtens Privatdozent (PD) Dr. D. vom 29. November 2004 mit Urteil vom 23. März 2005 ab. Im anschließenden Berufungsverfahren (L 6 U 66/05) erstattete der Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin PD Dr. S. auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten vom 13. Juni 2006. Dieser gelangte zu den Diagnosen durch chemisch-irritativ und toxisch wirkende Gefahrstoffe (Ammoniak 25 %) verursachte Atemwegserkrankung mit der Sekundärkomplikation einer unspezifischen bronchialen Hyperreagibilität sowie durch chemisch-irritativ und toxisch wirkende Gefahrstoffe (Ammoniak 25 %) verurs...