Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Mutter als Sekundäropfer. Unmittelbarkeitszusammenhang. natürliche Einheit. Schockschaden durch Nachricht von der Gewalttat. psychische Belastung durch Verschwinden der Tochter nicht ausreichend. hypothetischer Kausalverlauf
Leitsatz (amtlich)
In Schockschadensfällen erhalten sog Sekundäropfer nur dann Leistungen nach dem OEG, wenn sie als Augenzeugen des das Primäropfer schädigenden Vorganges oder durch eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sind. Der Schutzbereich des OEG wird überspannt, wenn alle aufgrund von Vermisstenfällen ausgelösten psychischen Störungen in den Anwendungsbereich einbezogen werden, noch bevor objektiv eine Gewalttat nachgewiesen ist.
Orientierungssatz
Eine Gewaltopferentschädigung für nahe Angehörige eines Getöteten als Sekundäropfer (hier: der Mutter) ist ausgeschlossen, wenn deren Erkrankung gleichermaßen eingetreten wäre, wenn nach dem Vermisstenzeitraum der Tod des Primäropfers (hier: der ermordeten Tochter) ohne Fremdverschulden oder durch einen Unfall festgestellt worden wäre.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) nach dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter.
Am 6. November 2004 verschwand die damals 21-jährige Tochter der 1959 geborenen Klägerin spurlos. An diesem Tag war die Tochter am späten Nachmittag Joggen gewesen, kehrte zurück in das Elternhaus und verließ dieses kurz danach nochmals. Die Klägerin verließ mit weiteren Verwandten gegen 18:00 Uhr das Haus, um an einer Feier teilzunehmen. In den Mittagsstunden des 7. November 2004 stellten die Klägerin und ihr Ehemann fest, dass die Tochter nicht zu Hause war. Noch am gleichen Abend wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet. Danach hatte die Tochter beim Verlassen des Elternhauses bis auf ihr Mobiltelefon jegliche anderen persönlichen Gegenstände zurückgelassen. Trotz umfangreicher Ermittlungen gab es bis zum 12. August 2005 weder eine Spur zur Tochter noch zu einer vermeintlichen Straftat. An diesem Tag wurde bei einer Hausdurchsuchung wegen einer anderen Straftat in der Nachbarschaft der Klägerin zufällig das Mobiltelefon der Tochter gefunden. Bei weiteren Durchsuchungen in diesem Haus wurden eine Kette der Tochter und ein Holzstiel mit DNA-Spuren der Tochter gefunden. Am 26. April 2006 wurde bei Grabungen im Keller dieses Hauses die Leiche der Tochter entdeckt. Mit Urteil des Landgerichts H. vom 12. August 2007 wurde der Bewohner des Hauses als Täter wegen Mordes verurteilt.
Am 14. Mai 2007 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung und machte psychische Störungen geltend. Sie leide unter Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, einer eingeschränkten Merkfähigkeit, Ängsten, Depressionen, Panikanfällen, psychosomatischen Organproblemen, Bluthochdruck und einem eingeschränkten Leistungsvermögen.
Der Beklagte führte medizinische Ermittlungen durch und zog zunächst den Reha-Entlassungsbericht der psychosomatischen Fachklinik B. K. vom 17. August 2006 bei. Die Klägerin hatte dort angegeben, sie leide bei dem Gedanken an den Tod der Tochter. Auch leide sie unter der extremen Aufmerksamkeit der Leute. In den letzten 12 Monaten sei sie für fünf Wochen arbeitsunfähig gewesen. Der psychische Befund habe keine Wahrnehmungsstörungen, keine Störungen der Konzentration und Aufmerksamkeit und keinen Hinweis auf inhaltliche oder formale Denkstörungen gezeigt. Testpsychologisch seien Erschöpfung, Depressionen, erhöhte Werte für Somatisierung und eine phobische Angst aufgefallen. Den Tod der Tochter in unmittelbarer Umgebung erlebe die Klägerin als schuldhaft und lasse die Trauer aus Angst vor übermächtigen Gefühlen nicht zu. Aufgrund des langen Vermisstseins und dann des Todes der Tochter sei es zu einer Dekompensation im Sinne einer Anpassungsstörung mit Angst und Depressionen gekommen.
Die psychologische Psychotherapeutin Dr. phil. J. berichtete am 5. Juni 2007: Die Klägerin habe anhaltenden traumatischen Stress erlebt, bis die Ermordung durch den Nachbarn festgestanden habe. Danach sei eine vorübergehende Beruhigung eingetreten. Derzeit laufe das Berufungsverfahren des Mörders, bei dem kein Ende abzusehen sei. Die Klägerin habe in den Jahren 2005 bis 2006 an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelitten. Danach sei es zur Retraumatisierung und Selbstüberforderung gekommen. Sie leide an einer schweren Anpassungsstörung mit affektiven und somatoformen Beschwerden, Erschöpfungszuständen und Depressionen. In einem weiteren Befundbericht vom 9. März 2009 stellte Dr. phil. J. eine Persönlichkeitsveränderung in Folge extremer Belastung fest. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. H. berichtete am 30. März 2009 von einer psychosomatischen Störung und einem akuten Erschöpfungssyndrom. Seit 2004 leide die Klägerin an einer Anpassungsstörung und depress...