Prof. Dr. Barbara E. Reinhartz, Dr. Paul Vlaardingerbroek
Rz. 118
Grundsätzlich steht jeder Minderjährige unter der Sorge eines Volljährigen. Diese Verantwortung ist entweder (gemeinsame) elterliche Sorge oder (gemeinsame) Vormundschaft (Art. 1:245 BW). Die elterliche Sorge wird durch beide Eltern des Minderjährigen gemeinsam oder durch einen Elternteil allein wahrgenommen. Die Vormundschaft wird durch eine andere Person als eine Elternteil ausgeübt (Art. 1: 245 Abs. 3 BW). Das Sorgerecht bezieht sich auf die Person des Minderjährigen, die Verwaltung seines Vermögens und seine Vertretung in bürgerlichen Rechtssachen, sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich (Art. 1:245 Abs. 4 BW). Der Inhalt des Sorgerechts und die diesbezüglichen Aufgaben des Erziehers werden durch das Gesetz nicht näher präzisiert. Das Gesetz bestimmt, dass die elterliche Sorge die Pflicht und das Recht der Eltern umfasst, ihre minderjährigen Kinder selbst zu versorgen und zu erziehen (Art. 1:247 Abs. 1 BW). Dazu zählen sowohl die Sorge und die Verantwortung für das geistige und körperliche Wohlbefinden des Kindes als auch die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes (Art. 1:247 Abs. 2 BW). In Art. 1:247 Abs. 3 BW ist festgelegt, dass die elterliche Sorge auch die Verpflichtung der Eltern beinhaltet, die Entwicklung des Bandes des anderen Elternteils mit seinem minderjährigen Kind zu fördern. Außerdem ist in Art. 1:377a BW die Verpflichtung zum Umgang aufgenommen in Bezug auf den Elternteil, der nicht mit der elterlichen Sorge betraut ist.
Rz. 119
Grundsätzlich haben die Eltern (beide Elternteile) bei bestehender Ehe die elterliche Sorge über ihre minderjährigen Kinder auszuüben (Art. 1:251 Abs. 1 BW). Die elterliche Sorge beginnt in diesem Fall ex lege mit der Geburt des Kindes und dauert bis zur Volljährigkeit des Kindes an. Die Situation kann sich aber anders entwickeln. Ein Elternteil kann sterben oder die Ehe kann durch Ehescheidung aufgelöst werden. Üben beide Eltern die elterliche Sorge über ihre minderjährigen Kinder gemeinsam aus und stirbt einer von ihnen, dann übt der überlebende Elternteil ex lege die elterliche Sorge alleine aus (Art. 1:253f BW).
Rz. 120
Seit 1.1.1998 üben nach der Ehescheidung beide Elternteile grundsätzlich gemeinsam die elterliche Sorge über ihre Kinder weiter aus. Auf Antrag eines oder beider Elternteile kann das Gericht bestimmen, dass die elterliche Sorge von einem Elternteil allein auszuüben ist. Ausschlaggebendes Kriterium für die richterliche Entscheidung ist das Wohl des Kindes (Art. 1:251 Abs. 2 BW). Die Ausübung der elterlichen Sorge durch einen Elternteil stellt eine Ausnahme dar und wird lediglich in etwa 5–10 % der Ehescheidungen zuerkannt. Minderjährige ab dem 12. Lebensjahr können den Richter um eine einschlägige Entscheidung ersuchen. Dasselbe gilt für Kinder, die jünger als 12 Jahre sind, von denen jedoch angenommen werden kann, dass sie ihre eigenen Interessen entsprechend beurteilen können (Art. 1:251a BW jo. Art. 808 Rv). Einer oder beide Elternteile, die nach der Scheidung (Art. 1:251 Abs. 2 BW) oder – wenn sie unverheiratet sind nach der Eintragung in das Sorgerechtsregister (Art. 1:252 Abs. 1 BW) – gemeinsam die elterliche Sorge ausüben, können zur Ansicht gelangen, dass sie die elterliche Sorge nicht länger gemeinsam ausüben können und wollen. Dies bedarf einer richterlichen Entscheidung, die von den Eltern zu beantragen ist (Art. 1:253n BW). Das Gericht bestimmt in der Folge, welcher Elternteil künftig die elterliche Sorge über die Kinder ausüben wird. Anlassfall werden meistens geänderte Umstände sein, wodurch die gemeinsame elterliche Sorge nicht länger dem Kindeswohl dienlich ist, oder wenn im Entscheidungszeitpunkt von falschen oder unvollständigen Informationen ausgegangen wurde.
Rz. 121
Der allein sorgeberechtigte Elternteil hat den anderen Elternteil über wichtige Angelegenheiten mit Bezug auf die Person oder das Vermögen des Kindes zu informieren und – erforderlichenfalls mit Hilfe Dritter – seine Meinung zu den bevorstehenden Entscheidungen einzuholen. Auf Antrag eines Elternteils kann der Richter hierüber entscheiden (Art. 1:377b Abs. 1 BW). Im Interesse des Kindes kann der Richter sowohl auf Antrag des sorgeberechtigten Elternteils als auch von Amts wegen entscheiden, dass Art. 1:377b Abs. 1 BW nicht zur Anwendung kommt (Art. 1:377b Abs. 2 BW). Der allein sorgeberechtigte Elternteil hat somit nicht nur eine Informationspflicht gegenüber dem anderen Elternteil, sondern muss auch in gewissen Fällen dessen Meinung einholen. Nach der Ehescheidung hat der sorgeberechtigte Elternteil nunmehr automatisch die Pflicht, den anderen Elternteil zu informieren und seine Meinung über "wichtige Angelegenheiten mit Bezug auf die Person und das Vermögen des Kindes" einzuholen. Es wird der Praxis obliegen, den Begriff "wichtige Angelegenheiten" zu konkretisieren. Unklar ist die Reichweite der Pflicht zur Einholung der Meinung des anderen Elternteiles. Ist der nicht sorgeberechtigte Elternteil anderer Meinung als...