Entscheidungsstichwort (Thema)
Urteilsanforderungen beim Zusammentreffen 'vertypter' Milderungsgründe mit minder schwerem Fall
Leitsatz (amtlich)
1. Sieht das Gesetz einen minder schweren Fall vor, ist bei Vorliegen eines vertypten Strafmilderungsgrundes stets vorrangig zu prüfen, ob vom Strafrahmen des minder schweren Falles auszugehen ist.
2. Die Art der Tatausführung darf dem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie ihm uneingeschränkt vorwerfbar ist. Dies kann nicht der Fall sein, wenn ihre Ursache z.B. in einer von dem Angeklagten nicht oder nur bedingt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt, weshalb sich das Urteil mit dieser Frage befassen muss (st.Rspr.; vgl. zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 18.06.2013 - 2 StR 104/13 [bei [...]]).
3. Die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen von unter 6 Monaten unterliegt gemäß § 47 I StGB besonderer Begründungsanforderungen. Der Tatrichter hat sich daher insbesondere mit der Frage der Unerlässlichkeit einer kurzfristigen Freiheitsstrafe auseinanderzusetzen.
4. Bloße Vermutungen des Tatrichters dürfen nicht zur Grundlage der Strafzumessung gemacht werden.
5. Will der Tatrichter bei einem Gewaltdelikt eine "posttraumatische Belastungsstörung" des Tatopfers strafschärfend berücksichtigen, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, wenn nicht dargelegt wird, aufgrund welcher Beweismittel er zu dieser Erkenntnis gelangt ist.
Normenkette
StGB §§ 21, 47 Abs. 1, § 49
Tatbestand
Das AG hat den Angekl. wegen Freiheitsberaubung in 2 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und mit Nötigung, wegen Zuwiderhandlungen gegen Anordnungen nach dem GewaltschutzG in 9 Fällen sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in 2 tateinheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil legte der Angekl. Berufung ein, die er in der Hauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte. Das LG hat mit Urteil vom 13.08.2015 die Berufung des Angekl. verworfen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Angekl. die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel erwies sich als erfolgreich und führte zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung an das LG.
Entscheidungsgründe
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der statthaften (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässigen Revision führt zu seiner Aufhebung, da die Strafzumessung durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
1. Infolge der wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch [...] ist nur noch dieser Gegenstand der Überprüfung im Revisionsverfahren. [...]
2. In den Fällen 1 und 11 des erstinstanzlichen Urteils kann das Berufungsurteil schon deswegen keinen Bestand haben, weil das LG das Vorliegen eines minder schweren Falles überhaupt nicht in Erwägung gezogen, sondern allein von der Möglichkeit einer fakultativen Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht hat. Diese Vorgehensweise stellt einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, weil vor einer fakultativen Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 I StGB zwingend die Frage eines minder schweren Falls zu erörtern gewesen wäre (st.Rspr.; vgl. zuletzt nur BGH, Beschl. v. 09.04.2015 - 2 StR 39/15 [bei [...]]; Fischer StGB 62. Aufl. § 50 Rn. 3 ff. m.w.N.). Dies wäre nur dann kein Rechtsfehler, wenn die Annahme eines minder schweren Falles von vornherein fern gelegen hätte (Fischer § 46 Rn. 86 m.w.N.). Hiervon kann jedoch angesichts des Umstands, dass die Berufungskammer die Voraussetzungen des gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrunds des § 21 StGB zu Grunde gelegt hat, nicht ohne Weiteres ausgegangen werden (zur nach st.Rspr. gebotenen Prüfungsreihenfolge in derartigen Fällen vgl. zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 21.07.2015 - 2 StR 24/15 [bei [...]], m.w.N.).
3. Rechtsfehlerhaft ist im Fall 11 der Urteilsgründe 1. Instanz ferner die Erwägung der Berufungskammer, soweit sie dort "das massive Vorgehen des Angekl., der sich durch Passanten nur widerwillig von der weiteren Tatausführung" habe "abhalten" lassen und "die Vielzahl von Schlägen" ohne weitere Überlegungen besonders straferschwerend gewertet hat. Nach ständiger höchstrichterlicher Rspr. darf die Art der Tatausführung einem Angekl. nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. nur BGH, Beschl. v. 18.06.2013 - 2 StR 104/13 [bei [...]]; Fischer § 46 Rn. 32, jeweils m.w.N.). Damit, ob dem Angekl. die ihm der Sache nach vorgeworfene Intensität seines Vorgehens trotz seines psychischen Zustands, der zu einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i.S.d. § 21 StGB geführt hat, uneingeschränkt vorwerfbar ist, setzt sich das Urteil indes nicht auseinander. Die Tatmodalitäten können jeweils auch Ausdruck der verminderten Schuldfähigkeit gewesen sein. Diese Möglichkei...