Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsverteilung bei Kollision von LKW mit auf dem Standstreifen stehender Person
Leitsatz (amtlich)
Fährt ein LKW bereits längere Zeit auf dem Standstreifen und kollidiert dort mit einer Fahrerin, die zuvor an die Fahrerseite eines dort abgestellten PKW gegangen ist, ist eine Haftungsverteilung 2/3-1/3 angemessen. (Rn. 4 - 9)
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1, § 9; StVO § 1 Abs. 2, § 18 Abs. 9
Verfahrensgang
LG Schweinfurt (Urteil vom 17.12.2020; Aktenzeichen 12 O 621/20) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 17.12.2020, Az. 12 O 621/20, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin 2/3 der materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 10.05.2019 zu ersetzen.
2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 10.05.2019 unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 1/3 zu ersetzen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits im Verfahren erster Instanz haben die Klägerin 33% und der Beklagte 67% zu tragen. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 55% und der Beklagte 45% zu tragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäߧ 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung des Beklagten ist zum Teil begründet, da der Klägerin gegen den Beklagten materielle Ansprüche nur in Höhe von 2/3 und immaterielle Ansprüche nur unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin von 1/3 zustehen.
1. Nach § 7 Abs. 1, § 9 StVG, § 254 BGB kann die Geschädigte nur den Teil ihres Schadens ersetzt verlangen, der dem anzusetzenden Mitverursachungsanteil des Schädigers an dem Zustandekommen des Unfalls entspricht.
a) Bei der Abwägung der Mitverursachungsanteile an dem Verkehrsunfall entscheidet das Gewicht der von den Beteiligten gesetzten Schadensursachen, soweit sie sich bei dem konkreten Unfall ausgewirkt haben (vgl. BGH NJW 17, 1175; 16, 1100; 14, 3097; 14, 217; 12, 1953; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 17 StVG Rn. 4 m.w.N.). Dabei ist in erster Linie zu fragen, wer in welchem Maß den Schaden verursacht hat. Es kommen insoweit auch Schuldgesichtspunkte zum Tragen, wobei das beiderseitige Verschulden nur ein Faktor der Abwägung ist (vgl. BGH NJW 18, 3095; 17, 1175; 16, 1100; 12, 1953; BGH NJW-RR 12,157; Hentschel/König/Dauer; a.a.O.).- Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile können nur unstreitige, zugestandene oder erwiesene Tatsachen herangezogen werden, keine nur vermuteten (vgl. BGH NJW 18, 3095; 17, 1175; 16, 1100; 14, 3097; 14,217; 12, 1953). Die Abwägung kann nicht schematisch erfolgen. Sie ist vielmehr aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (BGH NJW 03, 1929).
b) Unter Heranziehung dieser Rechtsgrundsätze sind folgende Abwägungsfaktoren zu berücksichtigen und es ergibt sich folgende Abwägung:
aa) Zu Lasten der Klägerin ist ein Verstoß gegen § 18 Abs. 9 S. 1 StVO zu berücksichtigen.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin handelte es sich nicht um ein ausnahmsweise erlaubtes Betreten der Autobahn. Jedenfalls soweit es nicht um die Besichtigung des Hecks des Fahrzeuges ging, sondern um das der Besichtigung nachfolgende Herantreten an das Fahrerfenster, kann eine ausnahmsweise Gestattung des Betretens nicht mehr angenommen werden.
Dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt mit den Füßen oder einem sonstigen Körperteil über die Sperrlinie hinaus in die rechte Fahrspur der BAB ragte, kann der Beklagte nicht nachweisen und muss bei der Gewichtung des vorliegenden Verstoßes außer Betracht bleiben. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem überzeugenden und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) W., der anhand zutreffender Anknüpfungstatsachen den Unfallhergang rekonstruierte. Das Gutachten des Sachverständigen, der eine über 20 Jahre hinausgehende Berufserfahrung als Unfallanalytiker bei der D. Automobil GmbH aufweist, erwies sich dabei als in jeder Hinsicht schlüssig und nachvollziehbar. Danach ist technisch eine Positionierung der Klägerin darstellbar, welche zu o.g. Ergebnis führt. Der Sachverständige erläuterte auch nachvollziehbar, dass mangels Einmessung der Fahrzeugposition eine genauere Positionsfindung als sie mittels Abschätzung durch ihn getroffen wurde, nicht möglich ist. Eine Positionsbestimmung durch Skalierung des vorhandenen Lichtbilds ist nicht möglich, weil es hierzu mehrerer Lichtbilder aus verschiedenen Perspektiven bedurft hätte, die aber nicht vorlagen. Aufgrund der sich hieraus ergebenden Toleranzen hat es auch keiner Vermessung des Fahrzeugs bedurft, da die gewonnenen Ergebnisse keinen Einfluss gehabt hätten. Der Senat schließt sich dieser nach...