Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge; Erteilung einer umfassenden Vollmacht, das Kind in allen persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten zu vertreten, als milderes Mittel gegenüber der Sorgerechtsübertragung
Leitsatz (amtlich)
1. Dem Antrag eines Elternteils auf Übertragung der Alleinsorge für das gemeinsame Kind ist mit Rücksicht auf den auch bei der Aufhebung der gemeinsamen Sorge zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz trotz Fehlens des für eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge erforderlichen Mindestmaßes an Bereitschaft und Fähigkeit der Kindeseltern, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren, im Einzelfall der Erfolg zu versagen, wenn der andere Elternteil ihn umfassend zur alleinigen Vertretung des Kindes in allen persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten bevollmächtigt, die erteilte Vollmacht - als gegenüber der Sorgerechtsübertragung milderes Mittel - nach den konkreten Umständen als ausreichend verlässliche Handhabe zur Wahrnehmung der Kindesbelange durch den bevollmächtigten Elternteil anzusehen und von einer hinreichenden Restkooperation zwischen den Kindeseltern auszugehen ist.
2. Die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen der Auflösung des gemeinsamen Sorgerechts trotz Vollmachterteilung durch den anderen Elternteil trifft den die Alleinsorge beantragenden Elternteil.
3. Die aktuelle Einschätzung eines Sachverständigen, wonach mit der Durchführung der Kindesanhörung das Risiko einer Kindeswohlgefährdung verbunden wäre, stellt einen das Absehen von der Kindesanhörung ausnahmsweise rechtfertigenden schwerwiegenden Grund i. S. des § 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 FamFG dar.
Normenkette
BGB § 1671 Abs. 1; FamFG § 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; GG Art. 6 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Bremen (Aktenzeichen 69 F 2835/21) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Kindesvaters wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bremen vom 23.12.2022 dahingehend abgeändert, dass der Antrag der Kindesmutter auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für die am [...] 2015 geborene gemeinsame Tochter X mit der Folge zurückgewiesen wird, dass es bei der gemeinsamen elterlichen Sorge der Kindeseltern verbleibt.
Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kindeseltern je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Verfahrenswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Kindeseltern streiten über das Sorgerecht für ihre Tochter (nachfolgend: X).
Der Kindesvater, [...], und die Kindesmutter, [...], haben am [...] 2011 die Ehe miteinander geschlossen, aus der am [...] 2015 X hervorgegangen ist.
Nach ihrer Darstellung vollzog die Kindesmutter bereits 2016 eine emotionale Trennung vom Kindesvater, setzte jedoch aufgrund dessen einschüchternden Verhaltens ihren Trennungswunsch seinerzeit nicht über die Nutzung getrennter Schlafzimmer hinausgehend um. Einen im Mai 2019 eingereichten Scheidungsantrag nahm die Kindesmutter wenige Monate später wieder zurück. Im Oktober 2020 zog sie mit X in eine andere Wohnung und stellte gleichzeitig beim Familiengericht (Gesch.-Nr.: 69 F 3150/20) den Antrag, ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter im Wege einstweiliger Anordnung zu übertragen. In jenem Verfahren wurden im Termin vom 30.10.2020 unter anderem die Einholung eines Sachverständigengutachtens in einem Hauptsacheverfahren sowie eine einem paritätischen "Wechselmodell" entsprechende Betreuung Xs durch beide Elternteile für die Dauer des Hauptsacheverfahrens vereinbart. Zu dem in Aussicht genommenen Hauptsacheverfahren kam es indes nachfolgend nicht mehr, weil die Kindesmutter dem Familiengericht unter dem 11.12.2020 mitteilte, dass die Kindeseltern mit X wieder im gemeinsamen Haushalt lebten, sodass ein Hauptsacheverfahren nicht mehr erforderlich sei.
Am 16.07.2021 beantragte die Kindesmutter sodann bei Familiengericht, ihr im Wege einstweiliger Anordnung zum einen die Ehewohnung zuzuweisen (Gesch.-Nr.: 69 F 2299/21) und zum andern die elterliche Sorge für X zu übertragen (Gesch.-Nr.: 69 F 2300/21). Gleichzeitig tauschte sie die Schlösser der Ehewohnung - einer Doppelhaushälfte, deren andere Hälfte von ihren Eltern bewohnt wird - aus und machte dem Kindesvater dadurch den weiteren Zutritt unmöglich. Mit Beschluss vom 8.8.2021 übertrug das Familiengericht der Kindesmutter im Wege einstweiliger Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für X. Mit Beschluss vom 9.8.2021 überließ es der Kindesmutter im Wege einstweiliger Anordnung die eheliche Wohnung für die Dauer des Getrenntlebens der Kindeseltern zur alleinigen Nutzung und untersagte dem Kindesvater das Betreten der Immobilie.
Das Trennungsgeschehen und die jeweiligen Beiträge der sich wechselseitig massives Fehlverhalten vorwerfenden Kindeseltern dazu werden von diesen überwiegend höchst divergent dargestellt.
Seit Juni 2021 findet zwischen X und dem Kindesvater kein Kontakt mehr statt; X lehnt diesen ab.
In dem vorliegenden (Hauptsache-)Verfa...