Entscheidungsstichwort (Thema)

Internationale Zuständigkeit in Kindschaftssachen, hier: Feststellung des "gewöhnlichen Aufenthaltes" des Minderjährigen im Sinne von Art. 1 MSA

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Sinne des Art. 1 des Minderjährigenschutzabkommens (MSA) handelt es sich um einen rein faktischen Vorgang. Bei längerer Verweildauer des Kindes und seiner vollständigen Eingliederung in seine soziale Umwelt kann auch gegen den Willen des in seinem Sorgerecht verletzten Elternteils der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Ausland (hier: Türkei) begründet werden.

2. Da das Minderjährigenschutzabkommen den Grundsatz der perpetuatio fori nicht kennt, kommt es für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes und somit der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit nach Art. 1 MSA nicht auf den Zeitpunkt der Stellung des Sorgerechtsantrags, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts an.

 

Normenkette

FamFG § 97; MSA Art. 1

 

Verfahrensgang

AG Bremen (Beschluss vom 13.11.2015; Aktenzeichen 70 F 1670/15)

 

Tenor

1. Die Beschwerde des Kindesvaters gegen den Beschluss des AG - Familiengericht - Bremen vom 13.11.2015 wird zurückgewiesen.

2. Der Antrag des Kindesvaters auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.

3. Der Kindesvater hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

4. Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.500 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kindesvater begehrt im einstweiligen Anordnungsverfahren, ihm das alleinige Sorgerecht für seine beiden Kinder X (geboren am [...] 2011) und Y (geboren am [...] 2013) zu übertragen.

Die beiden Kinder sind aus der zwischen ihm und der Kindesmutter am 29.6.2007 geschlossenen Ehe hervorgegangen. Die Eheleute haben sich im November 2014 getrennt. Die Kindesmutter ist mit beiden Kindern im Einverständnis des Kindesvaters am 17.11.2014 in die Türkei gereist, um sich dort mit den Kindern für längere Zeit zu erholen. Der Kindesvater hat für einen Krankenversicherungsschutz der Kinder in der Türkei für die Dauer von sechs Monaten gesorgt und die Flüge der Kindesmutter und der Kinder in die Türkei bezahlt; Rückflüge wurden nicht gebucht. Nach Angaben des Kindesvaters hat die Kindesmutter ihm am 8.3.2015 telefonisch erklärt, dass sie mit den Kindern nicht nach Deutschland zurückkehren wolle.

Am 24.3.2015 hat der Kindesvater beim AG - Familiengericht - Bremen beantragt, ihm die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder zu übertragen. Außerdem hat er beim AG Bremen einen Antrag auf Feststellung der Widerrechtlichkeit gemäß Art. 15 i.V.m. Art. 3 des Haager Übereinkommens vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) gestellt. Eine Widerrechtlichkeitsbescheinigung ist vom AG Bremen am 24.4.2015 erlassen worden. Das ebenfalls vom Kindesvater angestrengte Rückführungsverfahren nach dem HKÜ ist noch nicht abgeschlossen. Nach Schilderung des Kindesvaters - die Kindesmutter ist bisher an dem vorliegenden Sorgerechtsverfahren nicht beteiligt worden - hat die Kindesmutter in der Türkei am 1.4.2015 eine Arbeit aufgenommen. Sie lebe in Ankara in beengten Verhältnissen zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder. Der Kindesvater hat weiter angegeben, er habe nach der Abreise seiner Ehefrau festgestellt, dass diese ihren gesamten Goldschmuck im Wert zwischen 3.000 bis 4.000 EUR mitgenommen habe.

Mit Beschluss vom 13.11.2015 hat das AG - Familiengericht - Bremen nach mündlicher Anhörung des Kindesvaters am 9.9.2015 den Antrag auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für die Kinder X und Y abgelehnt. Gegen diesen, seiner Verfahrensbevollmächtigten am 20.11.2015 zugestellten Beschluss wendet sich der Kindesvater mit seiner beim AG Bremen am 3.12.2015 eingegangenen Beschwerde. Er beantragt, den Beschluss des AG vom 13.11.2015 aufzuheben und eine einstweilige Anordnung entsprechend dem Antrag vom 24.3.2015 zu erlassen, die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder Y, geboren am [...] 2013, und X, geboren am [...] 2011, auf den Kindesvater zu übertragen. Außerdem beantragt er für das Beschwerdeverfahren die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten.

II. Die statthafte (§§ 57 S. 2, 58 FamFG), form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Kindesvaters ist zulässig, aber unbegründet. Das AG - Familiengericht - Bremen hat im Ergebnis zu Recht den Sorgerechtsantrag des Kindesvaters zurückgewiesen. Dem Antrag des Kindesvaters auf vorläufige Übertragung der alleinigen Sorge für seine beiden Kinder im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes kann schon allein deshalb nicht stattgegeben werden, weil es für diesen Antrag an der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte fehlt.

1. Die internationale Zuständigkeit ist - anders als die örtliche und sachliche Zuständigkeit - von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens und somit auch noch in der Besc...

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