Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu Voraussetzungen und Berechnung eines Anspruchs auf Ersatz des Differenzschadens im Diesel-Abgasskandal
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den Anforderungen an die Substantiiertheit von Parteivorbringen, spezifisch im Hinblick auf Ansprüche im Rahmen des sogenannten Dieselskandals (Anschluss an BGH, Beschluss vom 28.01.2020 - VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740).
2. Die Behauptung der Verwendung eines unzulässigen Thermofensters in einem vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Pkw ist für sich nicht genügend für den Vorwurf einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung des Pkw-Erwerbers durch den Hersteller (Anschluss an BGH, Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, NJW 2021, 921).
3. Zu den Voraussetzungen an den Vortrag des Herstellers zur ausnahmsweisen Zulässigkeit der Verwendung eines Thermofensters aus Motor- oder Bauteilschutzerwägungen (Anschluss an EuGH, Urteile vom 14.07.2022 - C-128/20, C-134/20, C-145/20; Urteil vom 08.11.2022 - C-873/19).
4. Zu den Voraussetzungen für die Berufung des Herstellers im Rahmen des sogenannten Dieselskandals auf das Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums hinsichtlich der Verwendung eines unzulässigen Thermofensters (Anschluss an BGH, Urteil vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259).
5. Zur Schätzung des Differenzschadens des Erwerbers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Pkw im Rahmen des sogenannten Dieselskandals (Anschluss an BGH, Urteil vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259).
6. Zur grundsätzlichen Möglichkeit der Schätzung der Höhe des Restwerts eines vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Pkw unter Bezugnahme auf einschlägige Listen von Gebrauchtwagen-Verkaufspreisen (hier: DAT-Liste).
Normenkette
BGB §§ 31, 823 Abs. 2, § 826; EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1; Richtlinie 2007/46/EG Art. 18, 26; EGV 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2; ZPO § 287
Verfahrensgang
LG Bremen (Aktenzeichen 4 O 1003/20) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 21.02.2022 (Az. 4 O 1003/20) wird das Urteil wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 3.340,68 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 29.07.2020 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass in Höhe eines Betrags von EUR 285,32 Erledigung eingetreten ist.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 86% und die Beklagte zu 14%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
VI. Der Gegenstandswert für die Berufung wird auf EUR 26.364,54 festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen eines vom Kläger im Jahr 2012 erworbenen Kraftfahrzeugs im Zusammenhang mit dem sogenannten Diesel-Abgasskandal in Anspruch.
Der streitgegenständliche Pkw Audi A5 mit Erstzulassung am 09.12.2011 wurde vom Kläger am 28.03.2012 zu einem Kaufpreis von EUR 54.390,- inkl. MwSt. von der ... als Gebrauchtfahrzeug mit einem Kilometerstand von 40 km erworben. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor mit der internen Bezeichnung EA896 Gen2 ausgestattet und unterliegt der Abgasnorm EU5. Von einem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ist der Pkw nicht betroffen. Das KBA teilte am 29.04.2021 mit, dass es bezüglich des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine von der Beklagten vorgeschlagene "freiwillige Serviceaktion zur Emissionsverbesserung durch die Motorsteuerungssoftware" akzeptiert und entschieden habe, "diese im Verlauf des § 25 Abs. 2 EG-FGV zu überwachen". Die Beklagte bot ab 2019 für das streitgegenständliche Fahrzeug eine Software-Update für die Motorsteuerung an. Unstreitig ist der Pkw am 02.06.2022, d.h. nach dem Urteil 1. Instanz, vom Kläger mit einem Kilometerstand von 184.954 km für EUR 9.000,- weiterveräußert worden.
Der Kläger hat vor dem Landgericht geltend gemacht, dass das Fahrzeug vom Abgasskandal betroffen und bereits bei Übergabe manipuliert gewesen sei. Die Software des Motors sei so modifiziert gewesen, dass nur auf dem Prüfstand Abgaswerte gemessen worden seien, die die EU-Abgasnorm einhielten.
Dabei hat der Kläger in seiner Klageschrift vom 25.06.2020 zunächst namentlich geltend gemacht, dass das streitgegenständliche Fahrzeug im Realbetrieb außerhalb des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) die zulässigen Stickoxid- (NOx-) Werte drastisch überschritten habe. Hierzu hat sich der Kläger in seiner Klageschrift zunächst auf verschiedene Rückrufe des Kraftfahrtbundesamtes betreffend Fahrzeuge anderer Hersteller bzw. mit anderen Motortypen berufen.
Mit Schriftsatz vom 22.01.2021 hat der Kläger weiter behauptet, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer Prüfstandserkennung verbaut sei, die über einen Servolenkungssensor erkannt werde. Die Steuerung aktiviere dann einen besonderen Reinigungsmodus, der die gesetzlichen Abgaswerte einhalte, was ...