Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen
Leitsatz (amtlich)
1. Berufsunfähigkeit tritt in dem Zeitpunkt ein, in dem erstmals ein Zustand gegeben war, der bei rückschauender Betrachtung nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft keine Besserung zumindest bis zur Wiederherstellung der bedingungsgemäß maßgeblichen (hier 50%igen) Arbeitskraft erwarten ließ. Maßgeblich ist dabei weder der Zeitpunkt des Eintritts der Ausgangserkrankung oder der Arbeitsunfähigkeit des Versicherten, sondern, wann nach sachverständiger Einschätzung ein gut ausgebildeter, wohl informierter und sorgfältig behandelnder Arzt nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft erstmals einen Zustand des Versicherungsnehmers als gegeben angesehen hätte, der keine Besserung erwarten ließ.
2. Da es in der psychiatrisch psychotherapeutischen Diagnostik keine verlässliche Methode gibt, Störungen von Befinden und Erleben durch bestimmte Messergebnisse zu objektivieren, kommt es zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Versicherten wegen einer psychischen Erkrankung wesentlich auf seinen psychischen Befund, der sich aus den Angaben des Versicherten zu seinem Erleben und Befinden ergibt sowie auf die Beobachtung seines Verhaltens an.
Normenkette
VVG a.F. § 1; VVG §§ 16, 21; BUZ §§ 1-2
Verfahrensgang
LG Bremen (Urteil vom 20.08.2009; Aktenzeichen 6 O 404/06) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Bremen vom 20.8.2009 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
Der 1966 geborene Kläger war als Justizvollzugsbeamter tätig. Er hatte u.a. im Jahr 1988 eine Stimmbandlähmung, litt im Jahr 2000 an Rückenproblemen und Fertilitätsstörungen, erlitt im Jahr 2002 ein HWS-Syndrom und eine depressive Episode, hatte im Jahr 2003 erneut Rückenprobleme und litt im Jahr 2004 an Morbus Scheuermann.
Am 11.5.2004 führte der Kläger mit einem Versicherungsvertreter der Beklagten, dem Zeugen K. ein Antragsgespräch über den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung. In dem Antragsformular trug der Zeuge Vorerkrankungen der Nieren, der Harn- und Geschlechtsorgane, Allergien sowie sonstige Erkrankungen ein; sämtliche Angaben wurden am Ende der Gesundheitsfragen im Einzelnen konkretisiert (Anlage B 1). Der Antrag wurde vom Kläger unterschrieben. Am Ende des Formulars heißt es, dass die Beklagte vorläufigen Versicherungsschutz gemäß den hierfür geltenden Bedingungen (vgl. Bl. 122d. A) gewähre. Nach § 1 dieser Bedingungen steht die Zahlungspflicht unter der Voraussetzung, dass die Berufsunfähigkeit innerhalb von drei Monaten seit Ihrem Eintritt angezeigt wird. Gemäß § 3 der Bedingungen beginnt der vorläufige Versicherungsschutz mit dem Tag, an dem der Antrag bei der Beklagten eingeht, spätestens jedoch mit dem dritten Tag nach Eingang des Antrags beim Vermittler.
Am 19.5.2004 kam es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und einem drogenabhängigen Häftling, bei der sich beide blutende Verletzungen zuzogen. Der Kläger befürchtete, sich mit dem HIV-Virus infiziert zu haben und war in der Folgezeit krankgeschrieben. Am selben Tag suchte der Zeuge Kerner den Kläger auf. Der Kläger unterschrieb eine Erklärung, wonach eine Leistungspflicht der Beklagten wegen einer Berufsunfähigkeit aufgrund eines Karpaltunnelsyndroms ausgeschlossen sei. Die Erklärung trägt das Datum 19.5.2004 (Anlage B 2) und ging bei der Beklagten am 8.6.2004 ein.
Unter dem 14.6.2004 policierte die Beklagte den Versicherungsschein und versandte ihn an den Kläger. Versicherungsbeginn ist danach der 1.6.2004 (Anlage B 3). Vertragsbestandteil sind die Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung (Anlage K 1, Bl. 18 ff. d.A.).
Nach einem Attest des Hausarztes B. vom 24.3.2009 (Bl. 214 d.A.) wurde der Kläger am 4.6.2004 aus prophylaktischen Gründen zum Psychiater überwiesen. Ab dem 29.6.2004 befand er sich in Behandlung bei dem Neurologen Dr. A. (vgl. Anlage K 2, Bl. 28 d.A.).
Am 22.7.2005 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente, weil er infolge des Vorfalls vom 19.5.2004 an einer psychischen Erkrankung in Form einer schweren depressiven Episode und einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Mit Schreiben vom 1.9.2005 erklärte die Beklagte den vorsorglichen Rücktritt vom Vertrag unter Berufung auf Vorerkrankungen, die der Kläger bei Antragstellung nicht mitgeteilt habe (Bl. 39 d.A.).
Arbeitsversuche mit dem Kläger in anderen Bereichen der Verwaltung verliefen nicht erfolgreich. Inzwischen ist der Kläger dienstunfähig.
Der Kläger hat beh...