Leitsatz (amtlich)
1. Gegen eine Beschwerdeentscheidung des LG über die Rechtmäßigkeit eines nach § 18 Nds. SOG angeordneten Polizeigewahrsams ist auch nach Inkrafttreten des FamFG die weitere sofortige Beschwerde zum OLG gegeben (im Anschluss an BGH NJW 2011, 690).
2. Der in § 18 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG verwendete Begriff der "unmittelbar bevorstehenden Begehung" einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit entspricht hinsichtlich der zeitlichen Nähe des drohenden Schadenseintritts dem der gegenwärtigen Gefahr i.S.v. § 2 Nr. 1 Buchst. b Nds. SOG.
3. Zwar ist die Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Polizeigewahrsams aus der "exanteSicht" zu beurteilen. Die Gefahrprognose unterliegt aber voller gerichtlicher Nachprüfung. ein Beurteilungsspielraum kommt der Polizei insoweit nicht zu.
4. Bei Anwendung des polizeirechtlichen Grundsatzes, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts um so geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, auf Ingewahrsamnahmen ist zu beachten, dass hier die Eingriffsschwelle aus verfassungsrechtlichen Gründen wesentlich höher liegt als etwa bei Maßnahmen nach der Generalermächtigung.
5. Bei der im Rahmen einer Prognose nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG vorgenommenen Würdigung einer Blockadeaktion von Gegnern einer Versammlung als strafbare Nötigung ist auch zu prüfen, ob sich die Gegendemonstranten ihrerseits auf den Schutz des Art. 8 GG berufen können. ist dies der Fall und sind die Beeinträchtigungen der Versammlungsteilnehmer durch die Gegendemonstranten nur geringfügig und von kurzer Dauer, so kann sich die Blockadeaktion als nicht verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB darstellen (im Anschluss an BVerfGE 104, 92).
Normenkette
Nds SOG § 18; StGB § 240
Verfahrensgang
AG Stadthagen (Aktenzeichen 5 XIV 2111 L) |
LG Bückeburg (Aktenzeichen 4 T 35/11) |
Tenor
Die weitere sofortige Beschwerde wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Weiteren Beschwerdeverfah rens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Beschwerdewert wird auf 3.000, EUR festgesetzt.
Gründe
I. Durch Beschluss vom 27.7.2011 hat die 4. Zivilkammer des LG Bückeburg die sofortige Beschwerde der beteiligten Polizeidirektion gegen den Beschluss des AG Stadthagen vom 25.2.2011 als unbegründet zurückgewiesen. Das AG hatte auf Antrag des Betroffenen festgestellt, dass die polizeiliche Ingewahrsamnahme des Betroffenen am 14.8.2010 rechtswidrig war.
Nach den Feststellungen des LG fand am 14.8.2010 in B. N. eine als "Trauermarsch" bezeichnete Demonstration von Rechtsextremisten mit etwa 1.000 Teilnehmern statt. Hierbei handelte es sich um einen für das "Gedenkbündnis B. N." unter dem Motto "Gefangen, Gefoltert, Gemordet - Damals wie heute - Besatzer raus" angemeldeten rechtsextremistischen Aufzug, gegen den sich die auf denselben Tag für den Deutschen Gewerkschaftsbund und das "Bündnis B. N. ist bunt" angemeldete Demonstration richtete (vgl. OVG Lüneburg NordÖR 2010, 416). Der Betroffene und drei weitere Personen verschafften sich Zugang zur Strecke des rechtsextremistischen Aufzugs, indem sie in einer Kleidung, die polizeilichen Einsatzanzügen ähnelte, in einem Fahrzeug eine Kontrollstelle passierten. Auf dem Anhänger ihres Fahrzeugs führten sie eine etwa 110 cm hohe, mit Beton gefüllte Holzpyramide mit, die sie in der Absicht, den rechtsextremistischen Aufzug zumindest erheblich zu beeinträchtigen, gegen 13.15 Uhr in unmittelbarer Nähe zum Platz der Zwischenkundgebung auf der Aufzugsroute platzierten. Anschließend steckten sie ihre Hände in die Pyramide und verbanden diese - von außen nicht sichtbar - mit Kabelbindern. Nachdem es den eingesetzten Polizeibeamten nicht gelungen war, die Betroffenen aus der Pyramide zu lösen, stuften sie die Aktion als Versammlung ein und ordneten um 14.00 Uhr deren Auflösung an, der die Betroffenen jedoch nicht Folge leisteten. Im Bereich der Pyramidenaktion kam es auch zu Sitzblockaden und Durchbruchsversuchen anderer, auch gewaltbereiter Gegendemonstranten, so dass die Polizei um 14.15 Uhr auch Platzverweise mit Gewalt durchsetzen musste. Der rechtsextremistische Aufzug wurde schließlich um 15.43 Uhr - abgeschirmt von Polizeikräften - an der Pyramide und den vier Betroffenen vorbeigeleitet. Um 17.35 Uhr lösten sich die Betroffenen aus der Pyramide. Um diese Zeit hatten sämtliche Teilnehmer des rechtsextremistischen Aufzugs die Pyramide passiert und befanden sich auf dem Rückweg in Richtung Bahnhof. Nachdem sich die Betroffenen aus der Pyramide gelöst hatten, stellte die Polizei ihre Personalien fest und ordnete ihre Ingewahrsamnahme an. Die Betroffenen wurden zur Gefangenensammelstelle verbracht und von dort aus noch vor ihrer richterlichen Vorführung um 19.10 Uhr entlassen.
Das LG hat die Ingewahrsamnahme als rechtswidrig eingestuft, weil nach der Feststellung der Personalien ein Festnahmegrund nach § 127 StPO nicht mehr bestand, ein Gewahrsam zur...