Entscheidungsstichwort (Thema)
Sorge- und Umgangsrecht: Erziehungseignung bei Vernachlässigung von Kindern. Umgangsausschluss wegen der Gefahr einer Retraumatisierung
Leitsatz (redaktionell)
1. Werden Kinder im Haushalt der Eltern hochgradig vernachlässigt und sind unzweifelhaft vorhandene Schädigungen ursächlich auf physische Entbehrung und fehlende emotionale Zuwendung zurückzuführen, ist von mangelnder Erziehungseignung auszugehen.
2. „Echte” Traumata kennzeichnen sich dadurch, dass es bei jeder Reproduktion des traumatisierenden Erlebnisses – vorliegend des Kontakts mit den Eltern – zu einer Wiederbelebung der Belastungsreaktion kommt, so dass ein Gewöhnungsprozess mit dem Ergebnis eines Abbaus der Belastungsreaktion nicht erwartet werden dürfe.
3. Auch wenn solch ein Trauma weder sicher festgestellt noch ausgeschlossen werden könne, d.h. eine teilweise unsichere Tatsachengrundlage vorliege, könne ein Umgangsausschluss erfolgen, für den es ausreiche, dass der Umgang eine konkrete Kindeswohlgefährdung mit sich bringe.
Normenkette
BGB §§ 1666, 1684 Abs. 4, § 1696 Abs. 3, § 1773
Verfahrensgang
AG Hameln (Urteil vom 13.11.2008; Aktenzeichen 15 F 132/08) |
Tenor
I. Auf die befristete Beschwerde des beteiligten Jugendamts wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Hameln vom 13.11.2008 teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Den Kindeseltern wird die elterliche Sorge für ihr Kind J. R., geboren am ... 2006 entzogen. Zum Vormund wird das Jugendamt des Landkreises H. bestimmt.
II. Auf die befristete Beschwerde des beteiligten Jugendamts wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Hameln vom 30.9.2008 geändert. Der Umgang der Kindeseltern mit ihrer Tochter A. R., geboren am ... 2004, wird bis zum 31.12.2011 ausgeschlossen.
Die weitergehende Beschwerde des Jugendamtes zum Umgangsrecht wird zurückgewiesen.
III. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
IV. Der Beschwerdewert wird auf 12.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die beteiligten Kindeseltern führten bis Januar 2007 eine nichteheliche Lebensgemeinschaft. Sie haben vier gemeinsame Kinder, für welche sie die elterliche Sorge gemeinsam ausübten. Zunächst wurde am ... 2002 der Sohn Kevin geboren; die Kindesmutter war seinerzeit knapp 16 Jahre alt. Am ... 2004 sowie am ... 2006 folgten die im vorliegenden Verfahren betroffenen Töchter A. und J. am ... 2008, also rund 1 ½ Jahre nach der Trennung der Eltern, wurde schließlich der Sohn M. geboren.
Das vorliegende Verfahren betrifft zum einen die Regelung der elterlichen Sorge für die Tochter J. und zum anderen die Frage, inwieweit den Eltern ein Recht auf Umgang mit ihrem weiteren, in einer Pflegefamilie lebenden Kind A. zusteht.
Durch Beschluss des AG Hameln vom 19.12.2006 wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter A. den Eltern entzogen und dem Jugendamt des Landkreises H. übertragen. Anlass war die Feststellung einer durch Mangelernährung verursachten Dystrophie des Kindes durch die behandelnde Kinderärztin. Die anschließende Untersuchung des Kindes legte massive Anzeichen mangelhafter Versorgung durch die Eltern sowie eine dadurch hervorgerufene Deprivation offen. A. lebt mittlerweile seit Jahren in einer Dauerpflegefamilie.
Nach der Trennung der Eltern im Januar 2007 verblieben die Kinder K. und J. zunächst im Haushalt der Mutter. Im September musste die durch einen anonymen Anruf alarmierte Polizei J. aus dem verschlossenen, stark vermüllten und überhitzten Pkw der Mutter befreien. Der Zustand des bereits erheblich dehydrierten Kindes war derart kritisch, dass es in die Kinderklinik verbracht und anschließend nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen wurde. Zur Erklärung des Vorfalls gab die Mutter ggü. der Polizei an, sie habe einen Bekannten getroffen und darüber das Kind im Wagen vergessen gehabt. Im Krankenhaus wurden bei J. Symptome einer Vernachlässigung sowie eine Entwicklungsverzögerung festgestellt.
Das AG Hameln hat daraufhin in dem vorliegenden, ursprünglich zu dem Aktenzeichen AG Hameln 15 F 19207 geführten Verfahren den Eltern zunächst durch einstweilige Anordnung vom 27.9.2007 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für J. entzogen und in dem vom Jugendamt betriebenen, entsprechenden Hauptsacheverfahren die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Erziehungseignung der Kindeseltern angeordnet.
Der Sachverständige Dr. O. gelangte in seinem Gutachten vom 3.6.2008 zu der Empfehlung, J. und den im vorliegenden Verfahren nicht betroffenen Sohn K. in den Haushalt der Kindesmutter zurückzuführen, sofern sich jene mit den Kindern für mindestens 2 Jahre in eine Mutter-Kind-Einrichtung begebe und sich einer ergänzenden Psychotherapie unterziehe. Außerdem sei es zu empfehlen, dass sie die Zeit für eine Berufsausbildung nutze. Nach Ablauf der zwei Jahre sei eine weitere ambulante Förderung J. sowie eine engmaschige Familienhilfe geboten. Sollten die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt werden können, sei eine Rückführung J. in den elterli...