Leitsatz (amtlich)
›1. Das Vorfahrtrecht erstreckt sich auf die gesamte Fahrbahn und besteht unabhängig von einer Geschwindigkeitsüberschreitung.
2. Der ansonsten geltende Grundsatz, daß der Wartepflichtige, dem die Sicht auf die Vorfahrtstraße verwehrt ist, in diese soweit hineinfahren darf, bis er Einblick in sie gewinnt, gilt nicht beim Herausfahren aus einer Grundstücksausfahrt.‹
3. Im Rahmen der Haftungsabwägung hat der Motorradfahrer sich seine überhöhte Geschwindigkeit mit 1/3 anrechnen zu lassen, so dass von einer Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des PKW-Fahrers auszugehen ist.
4. DM 130000 [EUR 65.000] Schmerzensgeldkapital und eine monatliche Schmerzensgeldrente von DM 300 [EUR 150,00] sowie Feststellung des Ersatzes künftigen Schadens jeweils unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 1/3 für einen im Urteilszeitpunkt 29 Jahre alten Kradfahrer aus Verkehrsunfall wegen Querschnittslähmung, spastisch gelähmter Blase mit Harninkontinenz ohne rezidivierende Harnwegsinfekte und kompensierter Nierenfunktion, kompensierte Darmlähmung, eine nicht willentlich auslösbare Erektions- und Ejekulationsstörung. Rollstuhlzwang. Geschädigter im Unfallzeitpunkt 22 Jahre alt. Die rechnerische Kapitalisierung der Rente führt zu einem Gesamt-Schmerzensgeld von ca. DM 200000 [EUR 10.000]. Berufswechsel.
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Entscheidung vom 27.10.1988; Aktenzeichen 4 O 10/87) |
Tenor
Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wird das am 27. Oktober 1988 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beklagten teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 130.000 DM Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 6. Oktober 1987 und eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 300 DM, beginnend mit dem Monat März 1987, zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 23.229,31 DM nebst 4 % Zinsen auf 5.166,07 DM seit dem 6. Oktober 1987 und 4 % Zinsen auf 18.063,24 DM seit dem 22. September 1988 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 2/3 des ihm aus dem Verkehrsunfall am 2. Juni 1984 künftig noch entstehenden Schadens zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Von den Gerichtskosten des ersten Rechtszuges haben der Kläger 11 % und die Beklagten 89 % zu tragen, von den außergerichtlichen Kosten der I. Instanz der Kläger 12 % und die Beklagten 88 %. Von den Gerichtskosten des Berufungsverfahrens fallen dem Kläger 1 % und den Beklagten 99 % zur Last, von den außergerichtlichen Kosten dem Kläger 2 % und den Beklagten 98 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung durch Hinterlegung oder Sicherheitsleistung in Höhe von 205.000 DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Den Beklagten wird nachgelassen, die Sicherheitsleistung auch durch Stellung einer selbstschuldnerischen Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.
Die Beschwer beträgt für den Kläger: 447,29 DM und für die Beklagten: 228.970,24 DM.
Tatbestand
Der Kläger verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich am 2. Juni 1984 auf der Landesstraße 156 im Bereich B. in Höhe der Plantagen der Beklagten zu 2) ereignete. In diesem Bereich bestand eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h. Der damals 22 Jahre alte Kläger war mit einem seinem Bruder gehörenden Krad "Suzuki GS 550 M" aus Richtung A. gekommen und gestürzt. Beim Rutschen auf der Fahrbahn stieß er gegen den quer auf der Fahrbahn stehenden VW-Bus der Beklagten zu 2), wobei er sich schwere Verletzungen, die u.a. zu einer Querschnittslähmung führten, zuzog. Der Beklagte zu 1) hatte mit dem VW-Bus, der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert war, von der Plantage links der Straße zu der auf der anderen Straßenseite befindlichen Plantage fahren wollen. Beiderseits der Landstraße im Bereich der Plantage waren Fahrzeuge von Plantagenbesuchern trotz eines dort bestehenden Halteverbots geparkt.
Der Kläger hat erklärt, wegen der erlittenen Verletzungen keine Erinnerung an das Unfallgeschehen zu haben. Deshalb hat er sich auf die Einlassung des Beklagten zu 1) im Ermittlungsverfahren und auf die Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. B, vom 16. November, 11. und 20. Dezember 1984 sowie 30. Juni 1986 (Bl. 26 ff., 50 ff., 54 ff. und 68 ff. d.A.) bezogen. Er hat gemeint, dass danach den Beklagten zu 1) die Alleinschuld an dem Unfall treffe. Denn dieser sei mit dem VW-Bus für den Kläger völlig überraschend zügig bis zur Straßenmitte gefahren. Der Kläger habe nicht entscheiden können, ob der Beklagte zu 1) anhalten werde. Bei dem Versuch, dem plötzlich auftauchenden VW-Bus auszuweic...