Verfahrensgang
LG Stade (Urteil vom 19.11.2015; Aktenzeichen 8 O 57/15) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 19.11.2015 verkündete Urteil der Kammer für Handelssachen des LG Stade wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil gegen Sicherheitsleistung von 100.000,00 EUR abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in vorstehend genannten Höhe leistet. Im Übrigen kann die Beklagte die Vollstreckung aus beiden Urteilen durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Be-trages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin bringt das Produkt "S.-Kapseln" mit dem Wirkstoff Melatonin (5 mg) ohne arzneimittelrechtliche Zulassung als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr und wirbt damit, dass Melatonin die Einschlafzeit zu verkürzen und den Biorhythmus zu regulieren hilft, den Schlaf-Wach-Rhythmus verbessert, zur Verbesserung der Schlafqualität beiträgt und hilft, auf natürliche Weise einzuschlafen. Ob es sich bei diesem Produkt um ein Nahrungsergänzungsmittel oder um ein - zulassungspflichtiges - Arzneimittel handelt, ist zwischen den Parteien streitig.
Unter dem Produktnamen "C.", das 2 mg Melatonin in retardierter Form enthält, ist ein Produkt seit 2007 von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) als Arzneimittel zur kurzfristigen Behandlung der primären Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren zugelassen. Ferner gibt es Studien, die die Wirksamkeit von Melatonin bei Jetlag-Symptomatik untersucht haben. Die Substanz kommt auch in pflanzlichen Lebensmitteln vor, allerdings nur in sehr geringen Mengen. Gemäß der Verordnung (EU) Nr. 432/2012 existieren zwei zugelassene gesundheitsbezogene Angaben für Lebensmittel, die Melatonin enthalten (sog. Health-Claims), nämlich: "Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei" und "Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen".
In anderen europäischen Ländern, jedenfalls in Italien, ist das Produkt als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen, und zwar in der hier in Rede stehenden Wirkstoffkonzentration.
Der Kläger, ein eingetragener Verein, dessen satzungsmäßige Aufgabe die Wahrung der gewerblichen Interessen seiner Mitglieder und dabei insbesondere die Überwachung der Regeln des lauteren Wettbewerbs ist, hat behauptet, bei Melatonin handele es sich um ein Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 AMG, weil es eine pharmakologische Wirkung habe, die in nicht ganz unerheblicher Weise physiologische Funktionen beeinflusse. Für das Inverkehrbringen werde daher - so hat er gemeint - eine Zulassung gemäß § 21 AMG benötigt. Als Nahrungs- und Nahrungsergänzungsmittel habe das Produkt nicht vertrieben werden dürfen. Bereits seiner objektiven Zweckbestimmung nach diene das Produkt nicht der Ergänzung der allgemeinen Ernährung.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung zu verhängenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu vollziehen an den Geschäftsführern, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr das Mittel "S. Kapseln" ohne Zulassung als Arzneimittel zu bewerben und/oder in den Verkehr zu bringen, sofern dies geschieht, wie in Anlage K 1 wiedergegeben; die Beklagte ferner zu verurteilen, an den Kläger 178,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat bestritten, dass es sich bei den von ihr angebotenen "S.-Kapseln" um ein Arzneimittel handele. Hinweise darauf, dass mit dem Produkt eine Krankheit behandelt oder geheilt werden könne, fehlten. Bereits die Aufnahme von Melatonin in die Liste der zugelassenen "Health-Claims" bedeute - so die Auf-fassung der Beklagten - zum einen, dass die beschriebenen Wirkungen wissenschaftlich nachgewiesen seien, und zum anderen, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (= European Food Safety Authority = EFSA) davon ausgehe, dass der Verzehr von reinem Melatonin gesundheitlich unbedenklich sei, wobei nicht einmal Höchstmengen festgelegt worden seien. Die EFSA habe bei allen ihren Gutachten auch die Gutachten der Europäischen Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency = EMA) zu berücksichtigen und zu überprüfen, ob ein Lebensmittel oder Lebensmittelinhaltsstoff sicher sei und es sich nicht um einen pharmakologisch wirksamen Stoff handele. Die "Health-Claims" für Melatonin seien - unstreitig - erst fünf Jahre nach der Zulassung von "C.", nämlich im Jahre 2012, genehmigt worden, weshalb feststehe, dass die EFSA die gesundheitsbezogenen Angaben für Melatonin in Kenntnis der erteilte...