Leitsatz (amtlich)
Gegenüber dem groben Verschulden eines Fahrzeugführers im Rahmen eines waghalsigen Überholmanövers vor einer nicht einsehbaren Rechtskurve können im Einzelfall die Betriebsgefahr des überholten Lkw sowie ein zusätzliches Verschulden des Führers des Lkw wegen nicht unerheblicher 20 %iger Überschreitung (72 km/h statt erlaubter 60 km/h) der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zurücktreten.
Verfahrensgang
LG Hannover (Entscheidung vom 10.03.2006; Aktenzeichen 9 O 160/05) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. März 2006 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise abgeändert.
Die Klage wird weiter abgewiesen, soweit das Landgericht die Beklagte verurteilt hat, an die Klägerin 9.926,22 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12. Juni 2004 zu zahlen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.926,22 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Berufung der Beklagten gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von 25 % des von der Klägerin regulierten Gesamtschadens der Drittgeschädigten aus dem Verkehrsunfall am 4. August 2003 ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB, § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1 StVG, § 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagte, weil im Innenverhältnis zwischen der Fahrerin des (bei der Klägerin versicherten) überholenden Audi und dem Fahrer des (bei der Beklagten versicherten) überholten Lkw erstere den Drittgeschädigten gegenüber allein haftet.
1.
Allerdings trifft entgegen der in der Berufungsbegründung von der Beklagten vertretenen Auffassung auch den Fahrer des Lkw an dem Unfall ein Verschulden. Denn die vom Landgericht festgestellte und von der Beklagten nicht in Abrede gestellte Geschwindigkeitsüberschreitung des Lkw von 12 km/h (gefahrene 72 km/h statt zulässiger 60 km/h) ist für den Unfall mitursächlich geworden, wovon das Landgericht mit Recht ausgegangen ist.
Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und einem Verkehrsunfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre (BGH, NJW 2003, 1929). Die kritische Verkehrssituation beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (BGH, a. a. O.). Das war hier für den Lkw-Fahrer der Moment, als er den Überholvorgang der Audi-Fahrerin und das Auftauchen von entgegenkommenden Fahrzeugen bemerkte. Wie der Lkw-Fahrer bei seiner polizeilichen Anhörung am 9. August 2003 ausgesagt hat (vgl. Bl. 12 d. A. BY 741300465403/6 der Polizeiinspektion L.), hat er in diesem Moment sofort die Vollbremsung eingeleitet. Wäre der Lkw zu diesem Zeitpunkt nur mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h gefahren, wäre der Unfall bei im Übrigen gleichem Verhalten des Lkw-Fahrers (welches dafür zugrunde zu legen ist) vermieden worden. Denn dem Audi hätten dann jedenfalls gut drei Meter mehr zur Verfügung gestanden, weil ein Fahrzeug bei einer Fahrgeschwindigkeit von 72 km/h in der Sekunde 20 m zurücklegt, bei einer Fahrgeschwindigkeit von 60 km/h dagegen nur 16,67 m. Da nach den von der Polizei an der Unfallstelle gefertigten Fotos der Unfallfahrzeuge (insbesondere Lichtbild Nr. 10) und der Aussage des Lkw-Fahrers bei seiner polizeilichen Anhörung die Anstoßstelle an der vorderen Stoßstange der Zugmaschine des Lkw-Gespanns lag, ferner unstreitig ist, dass die Kollisionsstelle bei dem Audi an dessen rechter hinterer Fahrzeugseite lag und der Audi ebenfalls mit mindestens 72 km/h fuhr, also in einer Sekunde 20 m zurücklegte, während der Lkw bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h in der gleichen Zeit nur 16,67 m gefahren wäre (s. o.), ist die Feststellung des Landgerichts, der Zusammenprall wäre dann nicht erfolgt, im Ergebnis nicht zu beanstanden. Hierzu bedurfte es keiner Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.
2.
a)
Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG ist somit zulasten des Lkw-Fahrers neben der Betriebsgefahr des Lkw-Gespanns auch das in der Geschwindigkeitsüberschreitung liegende Verschulden zu berücksichtigen.
b)
Dem steht jedoch ein ganz erhebliches Verschulden der Fahrerin des überholenden Audi gegenüber. Deren Überholmanöver stellt sich als grob verkehrswidrig dar, weil sie sich entschlossen hat, an dem Lkw vorbeizufahren, obwohl sie wegen der Rechtskurve nicht übersehen konnte, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen sein würde (Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 1 StVO). Dabei konnte sie spätestens unmittelbar nach dem Ausscheren erkennen, dass es sich bei dem Lkw um ein beso...