Leitsatz (amtlich)
1. Im Hinblick auf die mit der Wahrnehmung von Sonderrechten verbundenen erheblichen Gefährdungen ist der Anwendungsbereich des § 35 StVO - auch weil er eine Ausnahmevorschrift darstellt - eng auszulegen.
2. Fahrzeuge der Unfallforschung fallen nicht in den in § 35 StVO genannten Kreis der Sonderrechtsfahrzeuge.
3. Die gem. § 35 Abs. 1 und Abs. 5a Begünstigten sind zwar an sich von der Einhaltung jeder Verkehrsvorschrift - also auch der Grundregel des § 1 - freigestellt. Diese Sonderstellung gibt aber keine Vorfahrt gegenüber dem übrigen Verkehr, sondern nur die Berechtigung, die allgemeinen Verkehrsregeln mit größtmöglicher Sorgfalt zu missachten.
Normenkette
StVO §§ 35, 38
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 05.10.2010; Aktenzeichen 9 O 243/08) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des LG Hannover vom 5.10.2010 teilweise abgeändert und insgesamt neu gefasst wie folgt:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 5.043,63 EUR abzgl. am 8.9.2008 gezahlter 798,32 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.5.2008 zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter als Gesamtschuldner verurteilt,
den Kläger von Rechtsanwaltsvergütungsansprüchen der Rechtsanwälte N. & R., H., anlässlich des Verkehrsunfalls vom 6.5.2008, beteiligte Fahrzeuge:... und ..., i.H.v. 272,27 EUR freizustellen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten als Gesamtschuldner zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO):
I. Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 6.5.2008 in H., bei dem der Beklagte zu 2 mit dem bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversicherten Fahrzeug der Verkehrsunfallforschung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) trotz Rotlichts der für ihn maßgeblichen Ampel in den Kreuzungsbereich S./G.-W.-Straße mit Blaulicht und Martinshorn einfuhr und inmitten der Kreuzung mit dem von der Zeugin M. bei Grünlicht für ihre Fahrtrichtung in die Kreuzung hineingefahrenen Pkw des Klägers kollidierte, wodurch sich das Verkehrsunfallforschungsfahrzeug der Beklagten überschlug und am Pkw des Klägers ein Totalschaden entstand.
Die Beklagten haben eine Regulierung von mehr als 50 % der dem Kläger entstandenen Schäden abgelehnt. Die im Übrigen erhobene Klage hat vor dem LG nur teilweise Erfolg gehabt. Der Unfall sei für keine Seite ein unabwendbares Ereignis gewesen. Der Beklagte zu 2 sei zwar mit überhöhter Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich hineingefahren, er habe sich jedoch als Führer eines Fahrzeugs der Verkehrsunfallforschung auf Sonderrechte i.S.d. §§ 35, 38 StVO berufen können. Der Kläger müsse sich auf seine Ansprüche eine Mithaftungsquote von einem Drittel anrechnen lassen.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren erster Instanz fort. Die Beklagten müssten vollständig für das Verkehrsunfallgeschehen einstehen, das allein der Beklagte zu 2 verschuldet habe, weil er nicht nur mit überhöhter Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, sondern dabei unstreitig auch eine rote Ampel "überfahren" habe. Der Kläger ist weiter der Ansicht, dass der Beklagte zu 2 als Fahrer des Unfallforschungswagens keine Sonderrechte habe beanspruchen können, weshalb er in jedem Fall vor der roten Ampel hätte halten müssen. Fahrzeuge der Unfallforschung gehörten nicht zu den in § 35 StVO privilegierten Verkehrsteilnehmerkreisen. Das habe auch die Landeshauptstadt Hannover nicht anordnen können.
II. Die Berufung hat Erfolg; die Klage ist begründet.
1. Der Verkehrsunfall war für keinen der Beteiligten unabwendbar.
Für den Kläger folgt das schon daraus, dass die Zeugin M. als Fahrerin seines Pkw nach den Berechnungen des Sachverständigen W. im Gutachten vom 30.6.2010 mit einer Geschwindigkeit unmittelbar vor der Kollision von 55 km/h in die Kreuzung hineingefahren ist und damit in jedem Fall die vor Ort zulässige Höchstgeschwindigkeit zumindest leicht überschritten hat.
Aber auch der Beklagte zu 2 hat sich im Sinne der Straßenverkehrsordnung nicht ideal verhalten und kann sich ebenso wenig auf eine Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens berufen. Denn selbst wenn ihm - wie er meint - ein Sonderrecht zur Verfügung gestanden haben sollte (dazu folgend Ziff. 2a), hätte er dies nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausüben dürfen (§ 35 Abs. 8 StVO) und wäre gerade im Hinblick auf die für ihn Rotlicht zeigende Ampelanlage verpflichtet gewesen, mit äußerster Vorsicht in den Kreuzungsbereich hineinzufahren und erst, wenn er sicher beurteilen konnte, dass sämtliche (hier insbesondere die aufgrund des Grünlichts) bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer ihm freie Bahn gewährten (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 38 StVO Rz. 3 m.w.N.). Entsprechend hat sich der Beklagte zu 2 aber nicht verhalten, weil nach den Berechnungen des Sachverständige...