Entscheidungsstichwort (Thema)
Gutgläubiger Erwerb eines bei einer unbegleiteten Probefahrt entwendeten Kraftfahrzeugs; Abhandenkommen bei Überwachungsmöglichkeit durch SIM-Karten
Leitsatz (amtlich)
1. Die Überlassung eines Kraftfahrzeugs durch den Verkäufer zu einer unbegleiteten und auch nicht durch technische Vorrichtungen, die einer Begleitung vergleichbar sind, gesicherten Probefahrt eines Kaufinteressenten auf öffentlichen Straßen für eine Dauer von einer Stunde ist keine Besitzlockerung, sondern führt zu einem freiwilligen Besitzverlust (Anschluss an BGH, Urteil vom 18. September 2020 - V ZR 8/19, juris Rn. 10).
2. Die durch den Einbau von zwei SIM-Karten eröffnete Überwachungsmöglichkeit stellt jedenfalls dann keine technische Vorrichtung dar, die einer Begleitung vergleichbar wäre, wenn die eingebauten SIM-Karten nicht dem Eigentümer, sondern nur der Polizei mit Unterstützung der Fahrzeugherstellerin eine Ortung ermöglichen (Fortführung von BGH, Urteil vom 18. September 2020 - V ZR 8/19, juris Rn. 10).
Normenkette
BGB §§ 854-855, 935
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 29.09.2021; Aktenzeichen 11 O 13/21) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das Urteil des Einzelrichters des Landgerichts Hannover - 11. Zivilkammer - vom 29. September 2021 geändert und neu gefasst.
Die Beklagte hat 30.172,41 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16. Februar 2021 an den Kläger zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten erster Instanz trägt der Kläger 21 %, die Beklagte 79 %, von den Kosten der zweiten Instanz trägt der Kläger 14 %, die Beklagte 86 %.
Das Urteil ist ebenso wie das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Beklagte, die gewerblich mit Kraftfahrzeugen handelt, überließ am 8. September 2020 einen Audi Q5 an einen angeblichen Kaufinteressenten für eine einstündige Probefahrt. In dem Fahrzeug waren zwei Sim-Karten verbaut, die eine Ortung durch die Polizei mit Unterstützung der Herstellerin grundsätzlich ermöglichen. Die Beklagte behielt die Zulassungsbescheinigung Teil II und einen Zweitschlüssel. Der Interessent, der falsche Personalien angegeben hatte, kehrte mit dem Fahrzeug von der Probefahrt nicht zurück. Rund zwei Wochen später erschien der Kläger bei der Polizei und legte gefälschte Zulassungspapiere vor. Die Staatsanwaltschaft gab das in Verwahrung genommene Fahrzeug an die Beklagte heraus, die es am 29. Oktober 2020 für 35.000 EUR, worin 16 % von der Beklagten abgeführte Umsatzsteuer enthalten waren, an einen Dritten veräußerte.
Der Kläger hat behauptet, das Fahrzeug sei über Ebay für 32.550 EUR zum Verkauf angeboten worden. Mit dem Anbieter habe er ein Treffen in H. vereinbart. An dem von dem Anbieter genannten Treffpunkt in einem Wohngebiet sei er wegen des Verkehrs zu spät angekommen. Der Anbieter habe ihm telefonisch erklärt, nun nicht mehr in H. zu sein und nicht persönlich kommen zu können. Seine Partnerin würde aber kommen. Er habe sich von ihr den Personalausweis vorlegen lassen. Dabei handelte es sich - unstreitig - um einen echten, der eingetragenen Person entwendeten Personalausweis. Die Verkäuferin habe der Frau auf dem Lichtbild ähnlich gesehen, auf diesem sei sie etwas pummeliger gewesen. Zweifel an der Identität habe er nicht gehabt. Wegen Abweichungen zu der in dem Inserat angegebenen Ausstattung habe er sich mit der Frau bzw. telefonisch mit dem Mann auf 31.000 EUR geeinigt. Die übergebenen Fahrzeugpapiere hätten auf ihn echt gewirkt. Ein fehlender Zweitschlüssel, den der Mann dabei gehabt haben solle, habe ihm nachgesandt werden sollen. Das Geld habe er in bar übergeben.
Die Beklagte hat den von dem Kläger geschilderten Erwerbsvorgang mit Nichtwissen bestritten. Sie hat behauptet, die Fälschung der Papiere sei erkennbar gewesen.
Das Landgericht, auf dessen Urteil wegen des erstinstanzlichen Parteivortrags, der getroffenen Feststellungen und der gestellten Anträge Bezug genommen wird, hat die Beklagte zur Zahlung von 35.000 EUR nebst Zinsen seit dem 16. Februar 2021 verurteilt und die weitergehende Klage abgewiesen. Die Beklagte habe den Besitz an dem Fahrzeug freiwillig aufgegeben. Der Kläger habe das Eigentum daran gutgläubig erlangt. Die Fälschung der Fahrzeugpapiere sei für den Kläger nicht erkennbar gewesen. Die verdächtigen Umstände reichten weder für sich noch in der Gesamtschau aus, dem Kläger grobe Fahrlässigkeit zur Last zu legen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Ein gutgläubiger Erwerb des Klägers scheide aus, weil ihr das Fahrzeug abhanden gekommen sei. Aufgrund der SIM-Karten habe sie Sachherrschaft behalten. Darübe...