Leitsatz (amtlich)
1. Der Netzbetreiber eines Schienennetzes ist Betriebsunternehmer i.S.d. § 1 Abs. 1 HPflG.
2. Das Betreiben der Infrastruktur einerseits und die Durchführung der Verkehrsvorgänge mit dem Fahrzeugpark auf dem Schienennetz andererseits sind gleichwertige Erfordernisse des Bahnbetriebs. Ein Vorrang des Bahnbetriebs besteht nicht.
3. Im Verhältnis der Betriebsunternehmer untereinander ist eine Versperrung des Schienenwegs dem Risikobereich des Netzbetreibers zuzurechnen.
4. Höhere Gewalt i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist.
In diesem Sinn ist ein infolge eines Sturmes auf die Schienen gestürzter Baum nicht ein Ereignis höherer Gewalt.
Normenkette
HaftPflG § 1 Abs. 1-2, § 13
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Urteil vom 02.09.2010; Aktenzeichen 5 O 97/10) |
Tenor
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des LG Verden vom 2.9.2010 teilweise abgeändert und insgesamt neu gefasst wie folgt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9.665,17 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.3.2010 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehenden Rechtsmittel werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
(gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO)
I. Die Parteien streiten um Schadensersatz nach dem Haftpflichtgesetz. Am 18.1.2007 stieß der Zug Metronom ME 81162 der Klägerin um 16:00 Uhr auf der von der Beklagten betriebenen Schienenstrecke zwischen Scheeßel und Rotenburg mit einem etwa einen halben Meter in den Schienenweg hineinragenden Baum zusammen. Infolge des an diesem Tag insbesondere über den Norden Deutschlands ziehenden Orkantiefs "Kyrill" war mit Beeinträchtigungen des Schienenverkehrs auch durch umstürzende Bäume zu rechnen. Am Triebwagen der Klägerin entstand erheblicher Sachschaden i.H.v. 14.072,76 EUR (Bl. 8 d.A.). Das Fahrzeug konnte einen Tag lang nicht genutzt werden. Deswegen macht die Klägerin auch Nutzungsausfall i.H.v. 477,25 EUR geltend (Bl. 4 d.A.), außerdem eine Auslagenpauschale von 75 EUR (Bl. 4 d.A.). Von dem danach errechneten Gesamtschaden von 14.625,01 EUR begehrt die Klägerin 2/3 von der Beklagten ersetzt, weil sie sich eine Mithaftung i.H.v. 1/3 anrechnet.
Das LG hat der Klage zum Teil stattgegeben. Die Beklagte hafte als Eisenbahninfrastrukturunternehmen gem. § 1 Abs. 1 HPflG; ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2 HPflG liege nicht vor. Bei der nach § 13 HPflG vorzunehmenden Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge sei eine hälftige Teilung des Schadens (50: 50) angemessen.
Dieses Urteil greifen beide Parteien mit ihrer Berufung an. Die Beklagte möchte eine vollständige Abweisung der Klage erreichen. Die Klägerin verfolgt ihr erstinstanzliches Klageziel weiter.
II. Die Berufung der Beklagten ist im Wesentlichen unbegründet. Die Berufung der Klägerin hat nahezu vollständig Erfolg.
1. Die Beklagte hat für die Unfallfolgen einzustehen. Sie ist Betriebsunternehmer i.S.d. § 1 Abs. 1 HPflG. Als Netzbetreiberin des Schienennetzes nimmt sie im aufgegliederten Eisenbahnsektor eine selbständige Teilaufgabe des Bahnbetriebs wahr. Sie baut, unterhält und vermarktet als Infrastrukturunternehmen für eigene Rechnung das in ihrer Verfügungsgewalt stehende Gleisnetz, indem sie die Schienentrassen an Eisenbahnverkehrsunternehmen wie die Klägerin gegen Entgelt überlässt, Einfluss auf die Fahrpläne nimmt und den Netzbetrieb abwickelt. Deshalb hat die Beklagte als Infrastrukturunternehmen auch die Sicherheit der Schienentrasse zu gewährleisten und dazu Personal auszuwählen und zu überwachen. Das Betreiben der Infrastruktur einerseits und die Durchführung der Verkehrsvorgänge mit dem Fahrzeugpark andererseits sind gleichwertige Erfordernisse des Bahnbetriebs. Ein Vorrang des Bahnbetriebs besteht nicht (vgl. näher BGH, Urt. v. 17.2.2004 - VI ZR 69/03, VersR 2004, 612, juris-Rz. 12 bis 19).
2. Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt kein Haftungsausschluss gem. § 1 Abs. 2 HPflG vor. Der BGH hat wiederholt für vergleichbare Fälle einen Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 1 Abs. 2 HPflG ausdrücklich verneint (vgl. insb. BGH, Urt. v. 16.10.2007 - VI ZR 173/06, VersR 2008, 126, Rz. 14; ebenso Urt. v. 22.6.2004 - VI ZR 8/04, IR 2004, 183, juris-Rz. 1 und 5 [dieses Urteil betraf einen durch eine Gewitterböe abgebrochenen und auf die Schienen gefallenen Baum]; Urt. v. 17.2.2004 - VI ZR 69/03, VersR 2004, 6...