Leitsatz (amtlich)
Die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht auf ein Sachverständigengutachten gestützt werden, das von unzutreffenden, bestrittenen oder lückenhaften Anknüpfungstatsachen ausgeht.
Ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung nur geeignet, wenn es wissenschaftlichen Standards genügt, insbesondere nach der anerkannten medizinischen Definition eines posttraumatischen Belastungssyndroms (ICD10: F43.1) darlegt, dass dessen medizinische Voraussetzungen vorliegen.
Das Gericht darf pauschale und nicht begründete Aussagen in einem Sachverständigengutachten nicht ungeprüft übernehmen, sondern muss den Sachverhalt durch ergänzende Nachfragen weiter aufklären, wenn es sein Urteil hierauf stützen will.
Die Abgrenzung psychisch vermittelter Folgeschäden von etwaigen Vorschäden, erfordert eine vollständige und kritische Sachverhaltswürdigung sowohl durch den Sachverständigen als auch durch das Gericht, die nicht allein auf ungeprüften Angaben des Geschädigten beruhen darf.
Normenkette
BGB § 823; ZPO §§ 286, 538
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Urteil vom 27.08.2021; Aktenzeichen 5 O 222/18) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das 27. August 2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg, Az. 5 O 222/18, samt des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis zu 230.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 28.12.2015 in L. ereignet hat.
Die Klägerin wartete mit ihrem Pkw an einer roten Ampel, als ein bei der Beklagten versicherter Pkw von hinten auffuhr. Das Fahrzeug der Klägerin wurde auf ein davor wartendes Fahrzeug aufgeschoben und beschädigt. Die Beklagte regulierte die entstandenen Sach- und Folgeschäden bis auf eine Restforderung von 244,64 EUR aufgrund geringer Kürzungen bei Sachverständigenkosten und Standgeldern (Bl. 3 ff. d. A.). Die Klägerin wurde nach dem Unfall im Krankenhaus behandelt, wo eine HWS-Distorsion diagnostiziert wurde. Die Klägerin beklagte dort Nacken- sowie Kopfschmerzen und leichte Übelkeit. Äußere Verletzungsanzeichen konnten nicht festgestellt werden. Am Folgetag suchte sie ihre Hausärztin auf, die u. a. eine posttraumatische Belastungsstörung, einen Tinnitus und eine HWS-Distorsion diagnostizierte, was die Beklagte bestreitet (Bl. 258 d. A.). Im Jahr 2016 schlossen sich diverse Arztbesuche der Klägerin sowie eine Rehabilitationsbehandlung vom 28.09. bis zum 02.11.2016 an, in der u. a. ein beidseitiger Tinnitus und eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert wurden (Bl. 5 ff. d. A.). Im Jahr 2017 kam es zu weiteren Behandlungen (Bl. 9 ff. d. A.). Bis zum 26.07.2017 erhielt die Klägerin Krankengeld und bezog bis zum 28.02.2018 Arbeitslosengeld. Seit dem 01.03.2018 bezieht sie Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Die Klägerin behauptet, durch den Unfall Verletzungen erlitten zu haben, die zu einer Erwerbsunfähigkeit und Erwerbsminderungsschäden geführt hätten, was insbesondere auf einer psychischen Vorbelastung beruhe (Bl. 12-19 d. A.). Sie ist der Auffassung, dass die Beklagte ihr neben einem angemessenen Schmerzensgeld (Bl. 19 ff. d. A.) Ersatz von Erwerbsausfall (Bl. 21 ff. d. A.), vermehrten Bedürfnissen (1.984,78 EUR Fahrt- und Behandlungskosten) sowie Rechtsanwaltskosten und Zinsen schulde.
Nach der Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden mit (Teil-)Anerkenntnisurteil vom 17.09.2018 (Bl. 270 d. A.) hat das Landgericht der Klage überwiegend stattgegeben. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin aufgrund des Unfalls unter einer klinisch relevanten Agoraphobie mit Panikstörung sowie einer mittelgradig depressiven Episode sowie einem Tinnitus leide und aus diesem Grunde "bis dato" erwerbsunfähig sei. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. W. habe die Klägerin als Primärfolge des Unfalls ein akutes Stresssyndrom gezeigt, welches sich zu einer mittelgradig depressiven Episode entwickelt habe. Diese führe zur Arbeitsunfähigkeit und sei eindeutig auf den Unfall zurückzuführen. Die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin begründe zwar eine erhöhte Vulnerabilität, die den Schädiger jedoch nicht entlaste, sondern nur bei der Höhe des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen sei. Der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens habe es nicht bedurft. Eine Erstschädigung in Form einer Wirbelsäulenbeeinträchtigung sei nicht feststellbar, aber auch nicht erforderlich, weil die Primärschädigung einer akuten Belastungsreaktion bereits nach dem Beweismaß des § 286 ZPO feststehe (Seite 6 L...