Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer zulässigen offenen Schmerzensgeldteilklage müssen für die Bemessung des auszuurteilenden Schmerzensgeldes sämtliche bis zur letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz bereits eingetretenen Schadensfolgen berücksichtigt werden, wobei diese - sofern es sich um Dauerschäden handelt - zugleich umfassend für die gesamte weitere Lebensdauer des Geschädigten gewichtet werden müssen, soweit die zukünftige Entwicklung hinreichend sicher absehbar ist. Es bleiben lediglich ungewisse Verschlechterungen ausgeklammert, die zwar als aus medizinischer Sicht möglich erscheinen, aber in der Frage ihres Eintritts und ihrer Auswirkungen gegenwärtig noch nicht hinreichend sicher bewertet werden können.
2. Wer als Schädiger einen auf die unterlassene Anlegung des Sicherheitsgurts gestützten Mitverschuldenseinwand erhebt, muss beweisen, dass der Verletzte bestimmte bei dem Unfall davongetragene Verletzungen nicht erlitten hätte, wenn er angeschnallt gewesen wäre.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 254; StVO § 21a
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Urteil vom 30.03.2006; Aktenzeichen 5 O 451/05) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers und die Anschlussberufung der Beklagten wird das am 30.3.2006 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des LG Verden unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger für den Zeitraum vom 19.5.2004 bis zum 11.8.2009 ein weiteres Schmerzensgeld von 50.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.8.2005 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 100 % der zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, letztere soweit sie nach dem 11.8.2009 entstehen, aus dem Unfall vom 19.5.2004 auf der Bundesstraße 215, Kilometer 8,5 bei Estorf zu ersetzen, soweit die materiellen Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des ersten Rechtszuges tragen die Beklagten als Gesamtschuldner 94 % und der Kläger 6 % mit Ausnahme der Kosten des am 21.2.2006 geschlossenen Teilvergleichs; diese werden gegeneinander aufgehoben.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten als Gesamtschuldnern zu 81 % und dem Kläger zu 19 % auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des 1,1-fachen des aufgrund des Urteils gegen ihn vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Die Parteien streiten, nachdem sie sich über die materiellen Schäden des Klägers in einem Teilvergleich vor dem LG geeinigt haben, noch über den grundsätzlichen Umfang der Einstandspflicht der Beklagten ggü. dem Kläger sowie die Höhe des dem Kläger danach zustehenden Schmerzensgeldes aus einem Unfallereignis am 19.5.2004 gegen 22:25 Uhr auf der B 215 kurz hinter der Ortschaft Estorf. Der von dem damals 18 ½ Jahre alten Beklagten zu 1 geführte VW Golf des Beklagten zu 2, der bei der Beklagten zu 3 versichert und zum Unfallzeitpunkt mit insgesamt 6 Insassen besetzt war, kam auf gerader Strecke ohne Beteiligung anderer Fahrzeuge nach links von der Fahrbahn ab, drehte sich und prallte mit dem rechten hinteren Fahrzeugbereich gegen einen Straßenbaum.
Dabei wurde der seinerzeit 15 Jahre alte Kläger, der zusammen mit drei weiteren Insassen unangeschnallt und in der Sitzposition als Zweiter von rechts auf der Rückbank des Fahrzeugs saß, schwer verletzt. Wegen der Verletzungsfolgen wird auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils verwiesen. Der VW Golf wies zum Unfallzeitpunkt schwere technische Mängel auf; u.a. waren einer der Reifen bis auf das Gewebe abgefahren, die Scheibenbremsbelege vorn völlig abgefahren sowie die Bremsleitung zur Radbremse hinten links stark verdrillt und mit einem Knick mit Querschnittsverengung ausgebildet, wie sich aus einem im polizeilichen Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachten des Dipl.-Ing. K. (DEKRA) vom 16.6.2004 ergibt. Der Sachverständige K. vermochte in-
dessen eine ursächliche Einwirkung der festgestellten Mängel auf das Unfallgeschehen nicht festzustellen.
Der Kläger hat gemeint, die Beklagten seien ihm zu 100 % für die Unfallfolgen einstandspflichtig, weil der Unfall auf einen Fahrfehler des Beklagten zu 1 und/oder auf die im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren festgestellte mangelnde Verkehrssicherheit des VW Golf zurückzuführen sei. Ferner liege ein den Beklagten zu 1 treffendes Verschulden auch darin, dass dieser trotz der Überbelegung des Fahrzeugs mit der Fahrt begonnen habe. Die von der Beklagten zu 3 vorprozessual gezahlten 80.000 EUR Schmerzensgeld seien deshalb nicht a...