Entscheidungsstichwort (Thema)
Zweitunfall auf Autobahn ohne Berührung mit dem liegengebliebenen Kfz aus dem Erstunfall
Leitsatz (amtlich)
1. Das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs" in § 7 Abs. 1 StVG ist entsprechend dem Schutzzweck der Norm weit auszulegen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 26. März 2019 - VI ZR 236/18 -, NJW 2019, 2227, Rn. 8 m.w.N., juris; Senat, Urteil vom 20. November 2019 - 14 U 172/18 -, Rn. 7, juris). Ein Schaden ist demgemäß bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist (Senat, a.a.O. m.w.N.). Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (Senat, a.a.O. m.w.N.). Auf eine Berührung der beteiligten Kraftfahrzeuge oder sonstigen Unfallbeteiligten kommt es nicht wesentlich an.
2. Die an einem Unfall beteiligten Fahrzeuge prägen einen nachfolgenden Zweitunfall (Kollision eines nachfolgenden Verkehrsteilnehmers mit den zuvor verunfallten, liegengebliebenen Fahrzeugen) mit, so dass die Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG gegeben ist. Dies gilt auch dann, wenn ein gewisser Zeitraum zwischen Erst- und Zweitunfall liegt.
3. Wird ein Kraftfahrer, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat, in einen Unfall verwickelt, so kann er sich nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG berufen, es sei denn, er weist nach, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1992 - VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337 - 345, juris).
4. Ein Kraftfahrer hat gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 S. 4 StVO seine Fahrweise so einzurichten, dass er auch in der Dunkelheit vor auf der Straße liegengebliebenen Kraftfahrzeugen, mögen sie auch unbeleuchtet sein, rechtzeitig anhalten kann (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 23. Juni 1987 - VI ZR 188/86, Rn. 13, juris [unbeleuchteter Panzer mit Tarnanstrich]; BGH, Urteil vom 08. Dezember 1987 - VI ZR 82/87, Rn. 11, juris; Senat, Urteil vom 05. September 2007 - 14 U 71/07, Rn. 10 mwN, juris).
5. Kommt es auf einer Autobahn infolge des Verstoßes eines Verkehrsteilnehmers gegen §§ 5 Abs. 4 S. 1 und 7 Abs. 5 StVO zu einem Unfall und später zur Kollision eines unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 S. 2, 4 StVO nachfolgenden Verkehrsteilnehmers mit den liegengebliebenen Fahrzeugen des Erstunfalls, kann die Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge zwischen den beiden schuldhaft handelnden Verkehrsteilnehmern eine Haftungsverteilung von 30 zu 70 zu Lasten desjenigen ergeben, der den Erstunfall verursacht hat.
Normenkette
StVG § 7 Abs. 1, § 17; StVO §§ 1, 3 Abs. 1 Sätze 2, 4, §§ 4, 5 Abs. 4 S. 1, § 7 Abs. 5; ZPO § 304
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 04.06.2019; Aktenzeichen 9 O 66/16) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 04. Juni 2019 verkündete Grund- und Teilurteil der Einzelrichterin der 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover ≪9 O 66/16 ≫ teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Klage ist dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 30 % gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, sämtliche weiteren Schäden, die der Klägerin aus der Gewährung verletzungsbedingter Leistungen an Herrn F. H. aus dem Verkehrsunfall vom 16. Januar 2014 entstehen und gemäß § 52 NBG auf die Klägerin übergehen, zu 70 % zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 75 % und der Beklagte zu 25 %.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des jeweils aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis 80.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Das klagende Land (im Folgenden: "die Klägerin") macht aus eigenem und übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 16.01.2014 gegen 21:39 Uhr auf der BAB ..., Fahrtrichtung D., zwischen der Anschlussstelle L. und dem Parkplatz G. ereignete.
Am Unfalltag befuhr ein in Litauen zugelassenes, vom Zeugen B. geführtes Lkw-Gespann, für das der Beklagte haftet, zunächst die rechte von drei Fahrspuren der BAB ... Als Herr B. zum Überholen auf die mittlere Fahrspur ausscherte, kam es zur Kollision mit dem Pkw Ford Fiesta des Zeugen R. Der Ford gerie...