Leitsatz (amtlich)
Wenn ein Autofahrer in ein Grundstück abbiegt und dabei ein nachfolgender Autofahrer auffährt, gelten keine Anscheinsbeweise mehr.
Normenkette
StVO § 9 Abs. 5
Verfahrensgang
LG Bautzen (Aktenzeichen 3 O 72/01) |
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des LG Bautzen vom 25.10.2001 – 3 O 72/01 – wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen der Klägerin zur Last.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.203,25 Euro (18.000 DM) festgesetzt.
Tatbestand
entfällt gem. § 543 Abs. 1 ZPO a.F.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten keinen Schmerzensgeldanspruch gem. §§ 823, 897 BGB, 3 Nr. 1 PflVG, weil sie nicht bewiesen hat, dass der Erstbeklagte die von ihr behaupteten Verletzungen schuldhaft herbeigeführt hat.
Bei dem vorliegend zu beurteilenden Unfall handelt es sich um einen Auffahrunfall. In einem solchen Fall spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Auffahrende – hier die Klägerin – unaufmerksam war oder den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 4 StVO Rz. 18 m.w.N.).
Andererseits war der umstrittene Unfall aber auch dadurch gekennzeichnet, dass der vorausfahrende Erstbeklagte mit seinem Fahrzeug nach links in das Grundstück eines Autohändlers abbiegen wollte, so dass er gem. § 9 Abs. 5 StVO zu äußerster Sorgfalt verpflichtet war. Kommt es in einer solchen Situation zu einer Kollision mit einem anderen geradeaus (weiter) fahrenden Fahrzeug, besteht ein Anscheinsbeweis für die Alleinverursachung zu Lasten des Abbiegenden (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 9 Rz. 44 m.w.N.).
Spricht danach vorliegend gegen beide Unfallbeteiligte ein Anscheinsbeweis, heben sich diese tatsächlichen Vermutungen gegenseitig auf und die damit verbundene Beweiserleichterung entfällt. Das hat zur Folge, dass gegen die Klägerin zwar vorliegend kein Anscheinsbeweis spricht. Sie musste aber den vollen Beweis der Tatsachen erbringen, aus denen sich ergibt, dass der Erstbeklagte die behaupteten Verletzungen schuldhaft herbeigeführt hat. Anders als bei der Gefährdungshaftung nach dem Straßenverkehrsgesetz (§ 7 Abs. 1 StVG) wird bei der verschuldensabhängigen Haftung auf Schmerzensgeld (§§ 823, 847 BGB) die Unfallverursachung bzw. das Verschulden der Beteiligten nicht gleichsam vermutet, mit der Folge, dass einen Entlastungsbeweis führen muss, wer diese Vermutung nicht gegen sich gelten lassen will (§ 7 Abs. 2 StVG). Folglich gibt es für ein Verschulden des Erstbeklagten vorliegend nicht nur keinerlei gesetzliche Vermutung. Auch über den Mitverschuldenseinwand, § 254 BGB, muss sich der Erstbeklagte nicht entlasten, solange nicht die Klägerin dessen Verschulden bewiesen hat. All diese Gesichtspunkte hat der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 10.4.2002 mit den Parteien erörtert und darauf hingewiesen, dass er ein Verschulden des Erstbeklagten an den Verletzungen der Klägerin für nicht erwiesen erachtet, und zwar aus folgenden Gründen:
Als Verkehrsverstöße des Erstbeklagten kommen Zuwiderhandlungen gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO und gegen § 9 Abs. 5 StVO in Frage. Der Beklagte muss also entweder ohne zwingenden Grund überraschend stark gebremst haben oder er hat die beim Abbiegen in ein Grundstück geforderte erhöhte Sorgfalt außer Acht gelassen. Beides ist nicht anzunehmen:
1. Fraglich ist bereits, ob überhaupt eine starke Bremsung stattgefunden hat. Relevante Bremsspuren gab es nicht, wie sich aus den Lichtbildern in der Bußgeldakte ergibt. Darüber hinaus hat der Zeuge W. bei seiner Zeugenvernehmung in erster Instanz eine Vollbremsung in Abrede gestellt; ebenso der Zeuge R. Dass dieser zuvor bei seiner Vernehmung durch die Polizei noch andere Angaben gemacht hat, reicht nicht aus, um die Behauptung der Klägerin (starke Bremsung) als bewiesen anzusehen.
Darüber hinaus müsste eine etwa erfolgte starke Bremsung für die Klägerin überraschend gewesen sein. Auch das hat sie nicht bewiesen, insb. nicht, dass der Erstbeklagte den beabsichtigten Abbiegevorgang nach links in die Grundstückseinfahrt des Autohändlers nicht oder zu spät angezeigt hat. Vielmehr hat der Zeuge W. ausgesagt, der Beklagte habe rechtzeitig links geblinkt, was er insb. an der grünen Kontrollleuchte im Tachometer erkannt habe. Ob das stimmt, erscheint zwar zweifelhaft, weil ein Beifahrer wohl eher selten das Tachometer des Fahrers gerade im später relevanten Augenblick beobachtet haben wird. Andererseits war vorliegend die Initiative vom Zeugen ausgegangen, nach links in die Grundstückseinfahrt des Autohändlers abzubiegen. Daher ist es schon vorstellbar, dass er den Abbiegevorgang verfolgt hat. Der Aussage des Zeugen R. muss man – anders als den Angaben des Zeugen W. – entnehmen, dass der Erstbeklagte nicht ordnungsgemäß geblinkt habe. Was der Zeuge angegeben hat, ist aber erstens sehr vage (Aussage im Protok...