Leitsatz (amtlich)

1. Der Postzusteller muss eine Zustellung in einem Geschäftsraum versuchen, bevor er eine Ersatzvornahme durch Einlegen in einen Briefkasten vornimmt.

2. Eine Zustellung nach § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten ist bei Fehlen eines Geschäftsraums auch dann nicht möglich, wenn die inländische Adresse als Geschäftsanschrift im Handelsregister nach § 8 Abs. 4 Nr. 1 GmbHG eingetragen worden ist (Abgrenzung zu BGH, Urt. v. 14.06.2013, V ZB 182/11).

3. Im Regelfall ist es dem Zustellungsempfänger verwehrt, eine fehlerhafte Ersatzzustellung geltend zu machen, wenn er einen Irrtum über das Vorhandensein von Geschäftsräumen bewusst und zielgerichtet herbeigeführt hat. Dies gilt jedoch nicht gegenüber demjenigen, der positive Kenntnis davon hat, dass der Zustellungsempfänger unter der eingetragenen Anschrift tatsächlich keinen Geschäftsraum unterhält.

 

Verfahrensgang

LG Chemnitz (Urteil vom 08.10.2015; Aktenzeichen 2 O 419/15)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - das Urteil des LG Chemnitz vom 08.10.2015 (2 O 419/15) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

II. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Schlussurteil des LG vorbehalten.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 405.950,00 EUR.

 

Gründe

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des LG Chemnitz vom 08.10.2015, mit dem ein Einspruch der Beklagten gegen ein Versäumnisurteil vom 05.05.2015, in dem sie zur Zahlung von 405.950,00 EUR zuzüglich Zinsen und vorgerichtlicher Anwaltskosten verurteilt worden ist, unter Zurückweisung eines Wiedereinsetzungsantrages verworfen worden ist.

Die Klägerin, eine Limited mit Sitz in E., hat in der Klageschrift vom 26.03.2015 mitgeteilt, dass die beklagte GmbH laut Handelsregister die Adresse C. Straße ... in F. aufweise. Gesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten seien die Herren S. und A., die beide in Israel wohnhaft seien und keinen dauernden Aufenthalt in Deutschland unterhielten. Ferner hat die Klägerin in der Klageschrift ausgeführt, dass eine an die Beklagte adressierte Schlussrechnung vom 01.09.2014 mit der Post nicht habe zugestellt werden können, weil weder ein Firmenschild noch ein Briefkasten mit der Bezeichnung der Beklagten an deren registermäßigen Firmenadresse bestanden habe. Die Beklagte, der die Schlussrechnung durch eine E-Mail an einen der Geschäftsführer übermittelt worden sei, sei der Klägerin aus einem mündlich am 03.01.2013 geschlossen und im Januar 2014 vorzeitig gekündigten Vertrag über die Komplettsanierung des Gebäudes C. Straße ... in F. zu einem Pauschalpreis von 420.168,07 EUR, der von der Klägerin weitgehend im Verlauf des Jahres 2013 durchgeführt sei, für erbrachte und nicht erbrachte Leistungen zur Zahlung von insgesamt 405.950,00 EUR verpflichtet.

Das LG hat ein schriftliches Vorverfahren angeordnet und die Zustellung der Klageschrift an die im Register eingetragene Adresse der Beklagten C. Straße ... in F. veranlasst. Es gelangte eine Zustellungsurkunde zur Gerichtsakte, nach deren Inhalt der Zusteller am 15.04.2015 versucht habe, die zuzustellenden Unterlagen übergeben, und anschließend - weil die Übergabe des Schriftstücks in dem Geschäftsraum nicht möglich gewesen sei - das Schriftstück in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt habe.

Nachdem eine Verteidigungsanzeige nicht zur Gerichtsakte gelangt ist, hat das LG am 05.05.2015 ein Versäumnisurteil erlassen, mit dem es die Beklagte zur Zahlung von 405.950,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.10.2014 sowie zum Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.443,60 EUR nebst Zinsen verurteilt hat. Das LG hat eine Zustellung dieses Versäumnisurteils gleichfalls an die im Handelsregister eingetragene Geschäftsadresse der Beklagten in der C. Straße ... in F. veranlasst. Wieder ist eine Postzustellungsurkunde zur Akte gereicht worden, nach der der Postbedienstete Sch. versucht hat, das Schriftstück zu übergeben, und - weil die Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen nicht möglich gewesen sei - es in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt habe.

Unstreitig unterhielt die Beklagte zum Zeitpunkt sowohl der Einlegung in den Briefkasten der Klageschrift am 15.04.2015 als auch zum Zeitpunkt der Einlegung des Versäumnisurteils in den Briefkasten am 13.05.2015 keinen Geschäftsraum unter der angegebenen Anschrift. Allerdings gab die Beklagte im Geschäftsverkehr diese Anschrift als ihre Geschäftsanschrift an; sie beschriftete auch jeweils einen Briefkasten an den Hauseingängen Nr ... und ... mit ihrer Firma, wobei streitig ist, zu welchem Zeitpunkt die Beklagten die Anzahl der mit ihrer Firma beschrifteten Briefkästen auf einen reduziert hat. Ferner hatte die Beklagte Herrn J., der in B. l...

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