Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfall nach vorangegangenem Spurwechsel
Leitsatz (amtlich)
1. Nach einem Fahrspurwechsel, der den Anscheinsbeweis grundsätzlich erschüttert, kann die für den Anscheinsbeweis notwendige Typizität erst wieder angenommen werden, wenn beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrzeugbewegungen einstellen konnten.
2. Wenn sich ein Auftraggeber auf ein Gutachten verlässt, das formal nicht den Anforderungen der Rechtsprechung an die Ermittlung des regional erzielbaren Restwerts standhält, verletzt er nur dann seine Schadensminderungspflicht, wenn daraus für die Gegenseite kausal ein Schaden entstanden ist.
Normenkette
BGB § 249; StVG §§ 7, 17
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Urteil vom 13.11.2017; Aktenzeichen 1 O 142/14) |
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 13.11.2017 teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin weitere 233,41 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2.12.2013 zu zahlen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Von den Kosten der Berufungsinstanz tragen die Klägerin 93%, die Beklagte 7%. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 43%, die Beklagte 57%.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 3.210,39 festgesetzt.
Gründe
I. Von der Wiedergabe des Sachverhalts wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a, 544 ZPO abgesehen, da gegen das Urteil unzweifelhaft ein Rechtsmittel nicht zulässig ist.
II. Die zulässige Berufung der Klägerin ist weitgehend unbegründet.
Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil im Ergebnis zutreffend eine hälftige Haftungsverteilung angenommen. Lediglich hinsichtlich der Frage des Restwerts hat die Berufung teilweise Erfolg.
Das Landgericht ist nach ausführlicher Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass der Verkehrsunfall vom 08.10.201X auf der Bundesautobahn A... in Richtung Stadt1 vor dem Kreuz1 von beiden beteiligten Fahrzeugen verursacht worden ist.
Nach dem von den Parteien nicht angegriffenen Sachverständigengutachten steht auch zur Überzeugung des Senats fest, dass beide Sachverhaltsvarianten, die von den Parteien geschildert worden sind, zutreffen können. Es kann durchaus sein, dass die beiden Fahrzeuge versetzt hintereinander hergefahren sind und der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs auf den vor ihm fahrenden Pkw1 aufgefahren ist, ohne dass es zuvor einen Fahrstreifenwechsel gegeben hat. Es ist aber genauso möglich, dass der Pkw1 vor dem Beklagtenfahrzeug die Fahrspur gewechselt hat und deshalb angesichts des sich stauenden Verkehr sein Fahrzeug so abbremsen musste, dass dem Hintermann der Bremsweg verkürzt wurde.
Das Landgericht hat bereits aufgrund dieser Möglichkeit eine Typizität verneint und ist deshalb zu einer hälftigen Schadensverteilung gekommen, weil der Unfall im Übrigen nicht aufklärbar war. Dies entspricht allerdings in dieser Abstraktheit nicht der Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis. Liegt ein weitgehend längsachsenparalleler Auffahrunfall vor, ist es grundsätzlich Sache des Auffahrenden, den Anscheinsbeweis gegen ihn zu erschüttern. Dafür ist erforderlich, dass er nicht nur behauptet, sondern auch nachweist, dass sich der Unfall im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel ereignet hat.
Etwas anderes gilt aber, wenn unstreitig ist, dass ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat und lediglich die Frage offen bleibt, wann dieser stattgefunden hat.
Nach einem Fahrspurwechsel, der den Anscheinsbeweis grundsätzlich erschüttert, kann eine Typizität erst wieder angenommen werden, wenn beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrzeugbewegungen einstellen konnten (KG 14.5.07 - 12 U 194/06 - NZV 08, 198; LG Essen 3.12.09 - 4 O 4/08 -; OLG Düsseldorf 19.1.10 - 1 U 89/09 - VersR 10, 1236; OLG München 4.9.09 - 10 U 3291/09 -; BGH 13.12.11 - VI ZR 177/10 -; so auch OLG Oldenburg 21.3.12 - 3 U 69/11 -; LG Dortmund 14.4.15 - 21 O 319/13 -; OLG München 12.1.18 - 10 U 3100/17 -).
Ist allerdings nur das Kerngeschehen, der Auffahrunfall, unstreitig, und stehen andere Umstände nicht fest, reicht als Basis für den Anscheinsbeweis das Kerngeschehen aus. Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel nicht beweisen, so ist der im Hinblick auf das Kerngeschehen eröffnete Anscheinsbeweis nicht erschüttert (BGH 13.12.2016 - VI ZR 32/16 -).
Vorliegend ist allerdings unstreitig, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs zuvor auf die linke Fahrspur gewechselt ist, wenn auch nach seiner Darstellung bereits lange vorher. Damit besteht aber die Möglichkeit der Unfallverursachung durch den Fahrspurwechsel, so dass sich die Klägerin nicht auf die für die A...