Entscheidungsstichwort (Thema)

Schmerzensgeldbemessung bei schwersten Unterschenkelverletzungen

 

Leitsatz (amtlich)

70.000 DM Schmerzensgeld bei erstgradig offener Unterschenkelfraktur unter anderem mit Beinlängendifferenz, Verheilung in Fehlstellung, Bewegungseinschränkungen im Sprunggelenk, praktischer Erwerbsunfähigkeit, Pseudoarthrose, langwierigem Heilungsverlauf, jahrelange Amputationsangst.

 

Normenkette

BGB §§ 823, 847

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Aktenzeichen 2 O 390/99)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 16.10.2000 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des LG Gießen wie folgt abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger als Schmerzensgeld über die bereits gezahlten 40.000 DM hinaus einen Betrag i.H.v. 30.000 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 24.6.1999 zu zahlen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar

Der Wert der Beschwer beträgt 30.000 DM.

 

Gründe

Von der Darstellung eines Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt und ist auch sonst zulässig. Sie hat in der Sache Erfolg.

Das LG hatte lediglich über die Höhe des vorliegend zu zahlenden Schmerzensgeldes zu befinden, da die Haftung dem Grunde nach zwischen den Parteien unstreitig war und ist.

Dabei hat das LG jedoch zu Unrecht entschieden, dass der Kläger von den Beklagten über die vorprozessual bereits gezahlten 40.000 DM hinaus nach pflichtgemäßem Ermessen unter Abwägung aller unfallursächlichen psychischen und physischen Beeinträchtigungen kein weiteres Schmerzensgeld beanspruchen kann.

Es hat die Klageabweisung hinsichtlich eines 40.000 DM übersteigenden Schmerzensgeldes darauf gestützt, dass die vom Kläger unfallbedingt erlittenen Beschwerden, Unannehmlichkeiten und Schmerzen durch die Verletzung und den komplizierten Heilungsverlauf sowie die verminderten Chancen, am Erwerbsleben teilzunehmen, und ferner die entgangene Lebensfreude durch veränderte Freizeitgestaltung insbesondere im Hinblick auf eingeschränkte Sportmöglichkeiten mit dem bereits vorprozessual gezahlten Schmerzensgeld i.H.v. 40.000 DM hinreichend ausgeglichen sind. Dem LG kann in dieser Bewertung nicht gefolgt werden.

Der BGH hat in seiner grundlegenden Entscheidung zur Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes festgestellt, dass Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentlichen Kriterien bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind (BGHZ 18, 149 [154]), womit im Sinne einer Objektivierung der Leiden insbesondere die Art der Verletzungen, die Zahl der Operationen, die Dauer stationärer und ambulanter Behandlung, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und das Ausmaß des Dauerschadens zu berücksichtigen sind (Slizyk, Beck'sche Schmerzensgeld-Tabelle, 4. Aufl. 2001, S. 7). Die Anwendung dieser Kriterien führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass der Kläger von den Beklagten ein Schmerzensgeld i.H.v. 70.000 DM, d.h. die Zahlung von 30.000 DM über die bereits gezahlten 40.000 DM hinaus verlangen kann.

Der Kläger hat bei dem unstreitig vom Beklagten zu 1) verschuldeten Unfall eine erstgradig offene Unterschenkelfraktur links erlitten. Auf der Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens kommt das LG zwar in überzeugender Weise zu dem Ergebnis, dass nur ein Teil der vom Kläger vorgetragenen Verletzungen und Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen ist und die übrigen Beschwerden degenerativer Natur sind. Unfallbedingt ist danach aber jedenfalls die Beinlängendifferenz des linken Beines von 7 cm im Unterschenkelbereich. Als weiterer Dauerschaden ist zu konstatieren, dass der Unterschenkelbruch in einer Fehlstellung verheilt ist, weshalb massiv starre Bewegungseinschränkungen des oberen Sprunggelenkes und Wackelsteife im unteren Sprunggelenk gegeben sind. Ferner sind ausgedehnte Narben am Unterschenkel vorhanden, die zu Durchblutungsstörungen führen. Außerdem ist die Zehenbewegung links beeinträchtigt. Zur Vorbeugung von weiteren Schäden ist das Tragen von orthopädischem Schuhwerk erforderlich. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zudem unwidersprochen über folgende fortbestehenden Beeinträchtigungen geklagt: Häufiges Umknicken, Probleme beim Stehen und Fortbewegen ohne orthopädischen Schuh aufgrund der erheblichen Beinlängendifferenz.

Zur bestehenden und zu erwartenden Erwerbsunfähigkeit des Klägers hat das vom LG eingeholte Gutachten ausgeführt, dass der Kläger bei den vorliegenden Funktionseinschränkungen in der Lage sei, leichte körperliche Tätigkeiten überwiegend sitzend auszuüben. Da der Kläger jedoch keinen Beruf erlernt habe, sei dem Patienten bei konkreter Betrachtungsweise der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, obwohl bei abstrakter Betrachtungsweise eine vollschichtige Beschäftigung möglich wäre.

Ferner gelangt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Funktionseinschränkung des Klägers „einen halben Beinwert” betrage.

Die unfallbedingte Pseudoarthrose, die im Gegensatz zu den ...

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